Frau Weidinger erzählt
Foto: Andy Urban für DER STANDARD
Ein leeres Café ist normalerweise ein Albtraum. Doch die Corona-Pandemie bescherte unserem Autor das Glück, mit Frau Weidinger allein in ihrem Kaffeehaus zu sitzen und über alte Sessel, Zucker als begehrtes Nahrungsmittel und gut bezahlte Ober zu reden.
Ort: Café Weidinger, Wien
Zeit: 13.12.2020
“Ein verrauchtes Café war was Herrliches!”
STANDARD: Frau Weidinger, ich komme seit 25 Jahren fast jeden Tag zu euch.
Weidinger: Das ist nett.
STANDARD: Wie lange sind Sie schon hier?
Weidinger: Ich war Industriedesignerin, dann habe ich 1967 meinen Mann geheiratet.
STANDARD: Der hieß Ernstl, obwohl alle männlichen Weidingers eigentlich Nikolaus heißen.
Weidinger: Mein Mann war Viertgeborener und durfte dann nicht mehr so heißen, nachdem ein Bruder von ihm namens Nikolaus zuvor an einer Kinderkrankheit gestorben war. Wie die Taufe von meinem Mann war, da hat eine böhmische Köchin gesagt: "Na, nennt ihn doch Ernstl, Ernstl verdirbt net!" Unser Sohn heißt aber wieder Nikolaus, er und die Anna, meine Tochter, führen jetzt das Café. 1928 hat es mein Schwiegervater übernommen, davor hieß es Café Marchhart, da schaun S’, das ist der Übergabevertrag, da steht: "Der ergebenst Gefertigte erlaubt sich hiermit den geehrten Gästen bekanntzugeben, dass er sein durch lange Jahre geführtes Kaffeehaus an Herrn Nikolaus Weidinger verkauft hat, welcher selbes am Donnerstag, den 16. August 1928 übernehmen wird." Und so weiter.
STANDARD: Der Schwiegervater hat dann alles neu eingerichtet?
Weidinger: Ich hab noch eine Rechnung von der Georg-Stark-Billard-Fabrik und -Kunsttischlerei aus der Siebenbrunnengasse in Wien V, datiert aus dem Jahre 1930, über 107 Sessel à 4,50 Schilling, vier Kleiderständer, drei Aschenbecher. Das waren Thonet-Sessel, man sieht noch die Einkerbungen für die Zettel, nur glaubt’s mir halt niemand. Von denen haben wir immer noch welche, aber die meisten sind kaputt, weil die Gäste immer hutschen. Vor ungefähr 30 Jahren haben wir dann tschechische von einem Vertreter gekauft. "Ja gut, bringen S’ uns zehn Stück!", hab ich zu ihm gesagt, sie waren enorm preisgünstig, aber ich wusste nicht, ob die halten. Dann waren es die absolut besten Sessel! Aber jetzt weiß ich nicht mehr, wie der geheißen hat! Heute haben wir so ein Sammelsurium an Sesseln, da sind welche von der berühmten Café-Konditorei Predendik auf der Mariahilfer Straße, die haben 80 Schilling pro Stück gekostet, aber das war eine Konditorei, und wir sind ein Kaffeehaus, also haben wir Holz draufgeben müssen. Richtige Kaffeehaussessel haben immer eine Mulde, schaun S’, Wirtshaussessel sind dagegen immer flach.
STANDARD: Die Sitzbezüge waren früher anders?
Weidinger: Wir hatten früher einen Leopardenüberzug, schwarz-orange-braun, der hat den Leuten irrsinnig gut gefallen. Das Tapezieren ist halt sehr teuer, mit Federkern, Rosshaar, Spanntuch, das ist sehr viel Trara.
STANDARD: Wer hat die Lampen aufgehängt?
Weidinger: Früher wurde für jede Glühbirne eine Lichtsteuer verlangt, da waren diese Riesenlüster herinnen mit den vielen Birnen, das konnte man sich nicht leisten. Also hat mein Mann die Kugeln hereingehängt.
STANDARD: Schaun wir nach hinten zu den Billardtischen.
Weidinger: Die Hälfte des Kaffeehauses war früher voll mit Billardtischen, da hab ich noch Fotos, schaun S’! Das da ist ein ganz alter Tisch von Georg und Stark, der hat unten noch die Laden für die Queues, das ist ganz selten. Billard ist mehr gespielt worden als sonst was, enorm viel, von früh bis spät!
STANDARD: Alle sind in der feinen Panier?
Weidinger: Alle Gäste im Anzug, früher waren ja nur Männer hier.
STANDARD: Wo sind alle Billardtische heute?
Weidinger: Hergeschenkt wahrscheinlich. Verkauft.
STANDARD: Gehen wir runter zur Kegelbahn.
Weidinger: Unsere Kegelbahn wurde im Jänner 1967 eröffnet, eingebaut von "Thurnberger Betrieb Munderfing", schaun S’! Eine Frau Freißler hat die Kegelbahn entworfen, eine junge Innenarchitektin, die gerade fertig war mit dem Studium. Mein Mann hat gesagt: "Ich musste eine Kegelbahn bauen, damit ich meine Familie ernähren kann." Im November 1967 haben wir geheiratet. Da sind immer zehn Schilling reingegangen, ganze Firmen sind damals jede Woche gekommen und haben ihre Mitarbeiter zum Kegeln eingeladen.
STANDARD: Was ist da hinten für ein Stüberl?
Weidinger: Das war früher der Kohlenkeller, den hat der Architekt Rother umgestaltet, ein Freund von mir. Da war dann der Gesangschor Jung Wien vom Professor Leo Lehner untergebracht, die sogenannte "Lehner-Runde." Die Ott, der Muliar, die Santner, der Zilk, alle waren in seinem Chor. "Ich hab dich lieb, mein Wien" war sein berühmtestes Lied, die haben bei Staatsempfängen gesungen, bis Russland, Frankreich sind sie gereist. Der Dipl.-Kaufmann von "Schau, trau, Elin!" war auch dabei. Und ein Herr Hlavacek, der eine Frau Hlavacek geheiratet hat, bei der Hochzeit hat sich der Standesbeamte nicht ausgekannt. Dort ist ein riesengroßer Eiskasten aus Holz gestanden, verschlagen mit Zinnblech, oben wurden die Eisblöcke reingelegt, die Kühle hat sich abgesenkt. Der Eismann ist einmal in der Woche gekommen, da vorne war das Eisloch, durch das sie von der Straße herunter das Eis geschüttet haben. Heute kommen noch ungefähr zehn Witwen von der Lehner-Runde, einmal im Monat treffen wir uns, früher war der Raum bummvoll.
STANDARD: Ich mag euer Wiener Frühstück.
Weidinger: Jetzt ist Frühstück große Mode, jeder hat eine ganze Speisekarte mit Frühstücken, dass Sie sogar ein Beefsteak essen können. Aber zur 300-Jahre-Wiener-Kaffeehaus-Feier 1983 haben wir das "Sonntagsfrühstück" eingeführt, da war ein bisserl Schinken dabei, ein Ei, der Kaffee und die zwei Semmerln. Da haben wir dann in der Bezirkszeitung Gutscheine verteilt, das hat aber leider Gottes nicht den Erfolg gehabt, wie wir gedacht haben. Aber die Leute, die sowieso gekommen sind, die haben das gut angenommen.
STANDARD: Und die beliebte Gulaschsuppe?
Weidinger: Die hat irgendwann ein Ober gemacht, der war ein Koch aus dem Burgenland. Dann kam die Bohnensuppe, dann die Hühnersuppe. Dann haben wir das Abnehmerprogramm mit der Krautsuppe gehabt, da gab es einen Plan dazu. Die Krautsuppe wurde akzeptiert, aber niemand hat das Abnehmerpaket mitgemacht. Und dann war irgendwann die Krautsuppe auch wieder weg.
STANDARD: Wie habt ihr immer eure Kellner gefunden?
Weidinger: So wie sie gekommen sind, haben wir sie ausprobiert. Die Ober waren Sirs, immer im Smoking, und jeder hat einen Zuträger gehabt. Früher musste der Ober die Zeitungen selbst kaufen und einspannen, weil er so viel verdient hat! Und der Kaffee wurde nach dem verbrauchten Zucker abgerechnet, kein Scherz! Da beim Eingang war die Budel, dahinter ist meine Schwiegermutter gesessen, vor ihr das Zuckerschüsserl mit dem Würfelzucker drin, der war mal was ganz Teures, da hat "die Herrschaft" einen Schlüssel für die Zuckerdosen gehabt. Das war nicht wie heute, dass die Leute keinen Zucker wollen.
STANDARD: Zeitung gelesen wurde immer?
Weidinger: Die Leute sind nicht den ganzen Tag geblieben, sondern drei-, viermal gekommen, bis auf die Pensionisten und Kartenspieler, die sind den ganzen Tag dagesessen. Meistens haben die Gewerbetreibenden der Umgebung ihre Mitarbeiter in der Früh eingeteilt, dann sind sie zu uns gekommen, ein Kaffee, ein paar Zigaretterln, die Zeitung lesen, dann wieder ins Geschäft. Dort haben sie geschaut, ob sie was arbeiten müssen, und zu Mittag sind sie wieder zu uns gekommen.
STANDARD: Hat jeder einen Lieblingsplatz?
Weidinger: Ja, absolut!
STANDARD: Geraucht ist immer worden?
Weidinger: Ja, immer, die Luft war zum Schneiden. Mich hat das nie gestört. Am Anfang hab ich mir gedacht: Wie stinkt’s denn da? Aber der Rauch, der war so angenehm, das war so sauber. Und wie dann nicht mehr geraucht werden durfte, das war furchtbar, es war keine Atmosphäre. Bis sich der kalte Rauch aus den Pölstern verabschiedet hat ... Ein verrauchtes Kaffeehaus war herrlich!
STANDARD: Frau Weidinger, ein letztes Mal – der Boxer Joschi Weidinger hat mich euch gar nichts zu tun gehabt?
Weidinger: Das Missverständnis hat sich lange gehalten, aber es war sogar gut für uns! Weil wenn sich die Gäste schlecht benommen haben, dann haben die Ober gesagt: "Wenn Sie sich nicht benehmen, kommt der Chef!" Mir wurde dann sogar kondoliert, als er starb, mein Mann und er waren befreundet.
STANDARD: Ich war am Neujahrstag der Euro-Einführung bei euch frühstücken, da hat der wunderbare Herr Hermann Dienst gehabt, der über das ganze Lokal verteilt seine Rotweinachterln stehen gehabt hat.
Weidinger: Der hat seinen Wein immer gezahlt, der hat nie irgendwas gestohlen! Der Hermann war so ein rührender Mensch. Vor der Wohnung meiner Tochter steht immer noch ein Stoffhund als Entschuldigung, weil da war er mal furchtbar betrunken, und dann hat er der Anna den Hund geschenkt: "Weil ich ein armer Hund bin", hat er gesagt. Dann mussten wir ihn aber entlassen, es hat uns so leidgetan, aber es ist nicht mehr gegangen. Eine Dame hat dann angerufen und gefragt, ob er einen guten Leumund hat. Ich sag: "Das ist ein ganz netter Mensch, aber er trinkt." Sagt sie: "Das schaffe ich schon!" Sag ich: "Gut, dann gratuliere ich Ihnen!" Sie hat es nicht geschafft. Zu seinem Begräbnis dann war sein letzter Wunsch, dass bitte jeder am Grab ein Achterl Rotwein trinken soll auf sein Wohl.
(12.12.2020 im STANDARD)