Host a Tschick?
Foto: Rebhandl
Karl kommt beinahe jeden Tag und fragt nach Zigaretten – selbst wenn zwei volle Schachteln seine Brusttasche ausbeulen.
22.12.2019 in der ZEIT
Gerade war er wieder bei mir. An einem kühlen, grauslichen, gar nicht vorweihnachtlichen Einkaufssamstagmorgen hat Karl um 7.50 Uhr an die Türe meines Büros geklopft. Als ich öffnete, sagte er wie immer: "Servas Manfred!" Er trug ein Plastiksackerl mit vier leeren Bierflaschen in der Hand, die er hinauf zum Spar bringen wollte, wo er 36 Cent dafür bekommen würde. 80 Cent hatte er bei sich, damit würde sich also ein Kilo der billigen Zuckereigenmarke um 69 Cent locker ausgehen. "Kaffee habe ich, Milch habe ich, aber keinen Brösel Zucker!", sagte er kopfschüttelnd, bevor er mich um das Packerl Tschick bat, das ich ihm für Notfälle versprochen hatte. Der war eingetreten, seit von der Stange Zigaretten, die er vor vier Tagen mit der Post von einem Freund zugeschickt bekommen hatte, nichts mehr übrig war.
Karl sieht nicht aus wie der Marlboro-Cowboy, der früher in der Werbung den Typus Raucher schlechthin verkörperte – stark, männlich, frei. Aber mit seinem weißen Vollbart und den weißen, dichten Haaren könnte er beinahe als Kris-Kristofferson-Double durchgehen, wenn er sich pflegen und regelmäßig die Haare waschen würde. Das kommt freilich nicht so oft vor, denn er führt ein Leben in Not.
Karls dürre Beine tragen ihn gebeugt durch die westliche Wiener Vorstadt, sie tragen dabei nicht mehr als 50 Kilo Körpergewicht, wenn überhaupt. Die Hose, obwohl immer mit einem Gürtel festgezurrt, hängt ihm meist bis halb zum Arsch, in kleinen Schritten bewegt er sich darin vorwärts. Damit sie ihm nicht ganz hinunterrutscht, hält er den Gürtel meist mit einer Hand fest. Manchmal ist die Hose nass. Im Sommer, wenn es richtig heiß wird, trägt er schon mal ein sehr enges, sehr buntes Ruderleiberl am dürren Körper, was dann ziemlich verwegen aussieht. Im Herbst behängt er sich mit einer zerfledderten Kunstlederjacke über einem wochenlang getragenen Hemd, das immer weit offen steht. Und jetzt, wo es Richtung Winter geht, hat er von irgendwoher eine wärmende Jacke bekommen, die er aber nie zumacht, und auch das Hemd darunter ist nach wie vor bis halb zum Bauch geöffnet. Aber egal, was er trägt, und egal, zu welcher Jahreszeit er mich besucht – Karl hat immer, wirklich immer eine Zigarette in der Hand.
Ich lernte ihn während der letztjährigen Fußball-WM kennen, in einem Lokal bei mir um die Ecke. Eine halbe Stunde, bevor es öffnete, stand er immer schon davor, und seine Hose, na ja … Kaum öffnete das Lokal, saß er schon drinnen an der Bar vor einem Fernseher – natürlich im Raucherbereich, den es damals noch gab. Fußball interessierte ihn dabei überhaupt nicht, ihn interessierten Bier und Zigaretten. Wenn er Geld hatte, konnte er sich selbst eines kaufen und die eigenen Zigaretten rauchen, aber Geld, sollte sich herausstellen, hat Karl nicht so oft. Als ich ihn auf eines einlud, bedankte er sich überschwänglich und nannte mir seinen Namen. Ich nannte ihm meinen, und da sagte er zum ersten Mal: "Servas Manfred! Hast a Tschick?" Seither höre ich diese Worte beinahe jeden Tag.
An einem der folgenden Sommertage entdeckte ich ihn in einer der selten gewordenen Telefonzelle neben meinem Stammcafé, wo ich im Gastgarten saß. Bald sah auch er mich und rief: "Servas Manfred!" Er kam zu mir und fragte, ob ich zwei Euro und eine Zigarette hätte. Ich gab ihm beides, und er erzählte, dass er von der Telefonzelle aus die Straße beobachtete und auf den Postler wartete. Ein Freund aus alten Tagen schickt ihm regelmäßig Zigaretten, aber darauf, dass der Postler ihm die ersehnte Ware zur Wohnungstüre brachte, wollte Karl nicht warten. "Die sind zwar aus der Slowakei", sagte er, "aber das ist ja wurscht." Mit den zwei Euro, die ich ihm gegeben hatte, rief er von der Telefonzelle aus einen Freund an, der auch schon dringend auf Zigaretten wartete. "Man hilft sich halt, wenn man kann", sagte er.
Karl hat Konditor gelernt, aber seinen letzten Job hatte er bei der Post am Westbahnhof als Packerlschupfer. Als die ihn nicht mehr brauchten, schickten sie ihn in Frühpension. Für seine Gemeindebauwohnung bezahlt er 400 Euro Miete im Monat, vom kargen Rest der monatlichen Pension überweist ihm der Sachwalter jeden Montag 70 Euro auf sein Konto. Bei zwei Packerln à fünf Euro, die er jeden Tag mindestens raucht, geht das ganze Geld für Zigaretten drauf. Den Rest des Tages verbringt er also damit, sich Geld für ein bisschen was zu essen zusammenzuschnorren, oder gern auch für noch mehr Zigaretten, gern auch für Bier. Mich hat er dabei als sichere Quelle ausgemacht und seit er weiß, wo mein Büro ist, klopft er jeden Tag bei mir an. Unsere Gespräche sind dabei von einer faszinierenden Routine:
– "Servas Manfred!" Karl ist gerade auf dem Weg zu seinem Sachwalter, der ihm morgen Geld überweisen soll. "Aber ich fahre heute hin, weil vielleicht, wenn er morgen in den Urlaub fährt, ist er heute gut drauf und überweist es mir schon heute, was meinst du?" Ich weiß es nicht. "Wenn er es mir mit der Post um halb 10 überweist, ist es vielleicht um halb eins bei mir am Konto, was meinst du?" Ich weiß es nicht. "Mehr als 30 Euro überweist er mir eh sicher nicht. Aber dreißig haben oder nicht haben … das sind sechs Packerl Tschick! Hast du welche?"
– "Servas Manfred!" Heute geht es ihm gerade nicht so gut, sagt er, weil er nur noch sieben Tschick hat. "Hast du ein paar? Hast auch nix? Wenn du mir was borgen könntest? Kannst auch nicht?"
– "Servas Manfred!" Er hatte noch zwei Euro, davon kaufte er sich für das Wochenende drei 2-Liter-Flaschen Austro-Cola zum Preis von 39 Cent je Flasche beim Discounter Penny, die er jetzt nach Hause schleppt. Er scheint sich hauptsächlich von Sirup, Kaffee, Brot und Zucker zu ernähren, sein Haushaltsbudget kalkuliert er in Cent- und niedrigen Eurobeträgen. "Hast du vielleicht Tschick?"
"Na ja, Schulden hab ich auch gehabt"
So geht das seit über anderthalb Jahren beinahe jeden Tag. Manchmal gebe ich ihm Zigaretten, manchmal nicht. Manchmal ein ganzes Packerl, manchmal zwei Euro, manchmal fünf, manchmal nichts. Als er auch mal an einem Sonntagmorgen bei mir anklopfte, merkte ich, dass ich in eine kleine Krise rutschte. Die Selbstverständlichkeit seines Auftauchens, die Monotonie seiner Fragen und Bitten gingen mir auf die Nerven, und natürlich wusste ich, dass er mich belügt und ausnützt. Es gab Tage, da steckten zwei Packerl in der Brusttasche seines Hemdes, und er fragte mich trotzdem, ob ich ihm eine geben könne. Oder es steckten zwei Packerl in seiner Hose, und er jammerte: "Wenn ich wenigstens ein paar Tschick hätte!" Wenn ich ihn auf seine Vorräte ansprach, lachte er nur, als wäre ich der größte Depp, der rein gar nichts verstand: "Zwei Packerl? Wie weit komm ich denn mit zwei Packerl!?"
Tatsächlich habe ich keine Ahnung, wie jemand so leben kann, Karl muss ständig rechnen: "Ich hab 40 Euro vom Sachwalter bekommen. Wenn ich dann morgen die 70 Euro von der Pension am Konto habe, dann habe ich 110. Dann kriege ich morgen von einem Freund auch noch dreißig Euro, das sind dann 140. Aber der kauft mir gleich die Monatskarte um 18 Euro, bleiben also von ihm nur 12. Am Abend kommt dann heute meine Freundin, die gibt mir sicher auch zehn Euro, dann gehe ich einkaufen: Zucker, Sirup, Kaffee, vielleicht ein Cola …"
An solchen Tagen lebt er beinahe sorglos, aber natürlich gehen auch bei ihm – wie in der realen Wirtschaft – nicht alle Pläne immer auf. Dann kommt es vor, dass das Geld irgendwo versickert:
"Servas Manfred!" – "Wie geht's?" – "Na ja, schlecht. Eine Tschick hab ich noch, eine einzige, sonst nix mehr." – "Und das ganze Geld von gestern?" – "Na ja, Kaffee hab ich gekauft, Zucker Milch, einen Sirup, zwei Sodawasser – hab ich gezahlt beim Spar 21 Euro." – "Und der Rest?" – "Na ja, Schulden hab ich auch gehabt." – "Und der Rest?" – "Drei Packerl Tschick hab ich mir auch gekauft." – "Und wo sind die?" – "Na ja, hearst! Das war vor mehr als 24 Stunden! Was glaubst du, was da noch übrig ist?"
Ich könnte ihn dann natürlich ermahnen, dass er sich das Geld besser einteilen solle. Oder ihn auffordern, sich einen Minijob zu suchen und sich zu seiner Minipension etwas dazuzuverdienen, um seine Zigarettensucht zu "finanzieren". Ich könnte ihn mit moralischem Zeigefinger daran erinnern, dass Rauchen ungesund ist, und dazu auffordern, den Gürtel doch um ein Loch enger zu schnallen, damit ihm die Hose nicht immer so weit hinunterhängt – woran "die Gesellschaft" Anstoß nehmen könnte, gerade jetzt in der Vorweihnachtszeit!
Aber dann erinnere ich mich jedes Mal an das Geschwätz jener, die den moralischen Zeigefinger keinesfalls gegen die SUV-Stinker erheben wollen und schon gar nicht gegen die Prediger illiberaler Demokratien in den östlichen Nachbarländern, nicht gegen Steuerhinterzieher und Großbankenpleitiers und auch nicht gegen Waffenverkäufer in Kriegsgebiete. Ich erinnere mich, dass wir ja in Zeiten leben, in denen über beinahe nichts Konsens herrscht, nur darüber halt, dass jeder so leben können soll, wie er gerade will, und sei es noch so gesellschaftszersetzend, unmoralisch oder gar kriminell.
Nur wenn es gegen die Armen und Bedürftigen geht, gegen die Verlotterten, Verschlampten und Ungepflegten, gegen die Hartzer, die Flaschensammler und Zigarettenstummelaufklauber, dann ist nie jemand um einen guten Tipp verlegen und zögert keiner eine Sekunde, den moralischen Zeigefinger zu erheben, weil auch darüber Konsens herrscht, dass solche wie Karl nicht ins Straßenbild passen und eigentlich überhaupt nicht in unsere Gesellschaft.
Ich aber kann nichts Schlechtes über Karl sagen, im Gegenteil. Er ist mir lieber als alle Steuerhinterzieher und SUV-Stinker, Waffenschieber und Großbankenpleitiers. Und darum habe ich seit Neuestem auch immer ein paar gute gekühlte Bierchen bei mir im Büro für ihn vorrätig, worüber er sich zwar nicht ganz so freut wie über ein paar Zigaretten, aber schon auch sehr. Und ich denke: "Man hilf sich halt, wenn man kann."