Mein irisches Abenteuer

Foto: Rebhandl 1985

Jimmy, Hughie und Paul kamen immer im Herbst auf ihrem Weg nach Südeuropa in Österreich vorbei. 1985 kamen sie nicht mehr. Doch zumindest von Jimmy gab es eine Adresse. Also machte ich mich auf die Socken, um ihn zu suchen.

21.07.2019 in der ZEIT

Im Sommer 1985 war ich jung und hatte kein Geld. Die Ausläufer der Pubertät machten mich starrköpfig und eigensinnig, jedoch war mein Hirn gerade nicht in Bestform. Das soll sich ja – so die Medizin – in dieser interessanten Lebensspanne noch einmal "neu zusammensetzen". Vielleicht war das der Grund, warum ich in diesem Sommer ohne Plan nach Irland fuhr.

Ein Jahr davor hatte ich in meinem oberösterreichischen Kuhdorf Jimmy Murphy aus Irland (Republik) kennengelernt, zusammen mit seinen beiden Freunden Hughie Lewis, ebenfalls Republik, und Paul Laverie, der aus Belfast in Nordirland stammte. Aber Republik oder Vereinigtes Königreich war egal, die drei einte ihre Freude am Leben und ihre Armut. Jimmy fehlten vorne ein paar Zähne unter seinem blonden Bärtchen in seinem fleischigen Gesicht. Er trug immer die gleichen Jeans und ein blauweiß gestreiftes Shirt seines Lieblingsfußballclubs Queens Park Rangers, die zu dieser Zeit im Abstiegskampf der ersten englischen Liga herumdümpelten, was er mit Würde ertrug. Seine restlichen Sachen passten in einen kleinen grünen Seesack.

Irland war ein Auswandererland und viele Iren ständig auf Achse. Auch die drei Freunde "von der Insel" arbeiteten während der warmen Sommermonate, wie sie erzählten, immer auf Baustellen in London. Und im Herbst machten sie sich auf in die Länder des südlichen Europas, in denen sie sich, wie sie erzählten, als Erntehelfer verdingten. Immer zuerst in Südtirol, wo sie Äpfel klaubten, dann in Frankreich (Wein) oder Sizilien (Orangen), bevor sie den Winter in Griechenland verbrachten, zum Entspannen.

Auf dem Weg nach Südtirol machten sie Halt in einem Land, das damals im Gegensatz zu ihren anderen Stationen noch nicht in der EU war, ja noch nicht einmal in der EG, wie das gemeinsame Europa damals hieß. Sie besuchten ein befreundetes Pärchen, das im hintersten Teil eines abgelegenen oberösterreichischen Tales einen kleinen Bauernhof bewirtschaftete und damals schon alternativ und bio lebte. Der junge Bauer war zuvor öfter mal "auf dem Landweg" nach Indien gereist. Auf dem Weg zurück verhafteten ihn einmal die Pakistaner und steckten ihn, wie er erzählte, in ein dreckiges Loch von einem Gefängnis, wo er beinahe verreckt wäre, wenn ihn seine Mutter nicht abgeholt hätte.

Froh darüber, noch am Leben zu sein, machte er seinen Bauernhof zu einem Ort der Freude, und wo würden Iren besser hinpassen als genau dorthin? Man trank gemeinsam und kiffte und feierte gemeinsam, und irgendwann sang man immer auch gemeinsam. Denn die Iren sind nicht nur dem Klischee nach singfreudig, Jimmy, Hughie und Paul waren es wirklich, und die irischen Lieder sind nicht nur dem Klischee nach voller Wehmut. Hughie hatte immer sein Banjo mit dabei, und da es die Zeit war, als die Pogues, die ja eigentlich aus London kamen, aber gerne als Irisch durchgingen, Dark Streets of London sangen, sangen wir dieses Lied auch. Und ich verrückter österreichischer Teenager mit dem sich neu zusammensetzenden Hirn hatte durch diese drei verrückten Iren und ihre Musik erstmals eine Idee von "Europa".

1985 dann, als die wunderschöne Cait O'Reardon auf dem Pogues-Album Rum, Sodomy & The Lash "I’m a man you don’t meet every day" sang, tauchten die Iren nicht mehr bei uns auf, und die Freunde am Bauernhof wussten auch nicht so recht, wo sie waren, es gab ja keine Handys damals, kein WhatsApp und keine Instagram-Accounts. Ich aber hatte so eine Sehnsucht nach dem Irischen Lebenslauf entwickelt – obwohl ich das gleichnamige Buch von Flann O´Brien noch gar nicht kannte –, dass ich den dicken Jimmy Murphy, der sich selbst immer "Jimmy Morphy" nannten (vielleicht, weil ihm die vorderen Zähne fehlten) unbedingt besuchen wollte. Da traf es sich gut, dass die Freunde von hinten im Tal eine ungefähre Adresse von ihm hatten, sie lautete: Jimmy Murphy, Charleville, County Cork. An eine Telefonnummer und einen eventuellen Anruf, verbunden mit der Frage, ob er überhaupt in der Gegend wäre, dachte ich damals keine Sekunde. Ich dachte nur: Das kann doch jetzt wirklich nicht so schwer sein, den Jimmy dort zu finden sein! Denn wenn man jung ist und sich das Gehirn neu zusammensetzt, gibt es keine unlösbaren Probleme.

Ich bat meinen Vater also um ein wenig Geld, das für ein One-Way-Zugticket nach Le Havre reichte, und machte mich ohne Plan, dafür mit viel Enthusiasmus auf den Weg. Meine vorgesehene Zugstrecke führte unter der Schweiz herum durch Italien nach Frankreich, ich aber nahm spontan eine Abkürzung, was soll denn schon passieren, wenn man mitten durch Europa fährt? Die Strafe der Schweizer Staatsbahnen kostete mich schon am ersten Tag den Großteil meines ohnehin bescheidenen Urlaubsbudgets.

Per Autostopp kam ich irgendwie trotzdem hinunter nach Italien, und von dort mit einem Lkw durch den Gotthard-Tunnel wieder hinauf und nach Frankreich, wo ich irgendwo wieder den Zug bestieg, der mich über Paris nach Le Havre brachte. Dort nahm ich die Fähre nach Rosslare, querte auf dieser die stürmische Keltische See, und kam praktisch ohne Geld drüben in Irland an. Nicht nur deshalb fühlte ich mich sofort wie einer der Iren!

Schöner und rührseliger wird es im Leben nicht mehr

Per Autostopp tingelte ich die Südküste entlang, und – Achtung, Klischee! – wie immer, wenn die Leute arm sind, sind sie freundlich, offen und hilfsbereit. Ich schlief bei alten Leuten, die mir ihr Bett überließen, und bei einer dicken Frau, die mich mit ins Bett nahm und anschließend gut mit Stew, Eggs and Tea versorgte. Ich lernte Travellers kennen, als ich schon beinahe drüben in Cork angekommen war, einen zerzausten, zotteligen Iren, der im Wohnwagen mit einer zerzausten, zotteligen – Überraschung! – Österreicherin unterwegs war, die ein wenig aussah wie Janis Joplin. Sie hielten mich mit meinem Ösi-Englisch für einen Amerikaner, luden mich aber trotzdem ein ins nächstgelegene Pub, wo wir tranken und feierten und – kein Witz! – irgendwann alle miteinander Amazing Grace anstimmten, bis wir einander in den Armen lagen und weinten. Das war dann einer der Momente, wo man auch als hirnloser Jugendlicher irgendwo ganz tief drinnen in der Seele weiß: Schöner und rührseliger wird es im Leben nicht mehr sehr oft werden.

Weil wir Österreicher beim Saufen nicht so viel vertragen wie die Iren, ging ich mit der zerzausten Janis schon mal vor zum Wohnwagen, und da hätte ich mir schon denken müssen: Keine gute Idee! Aber es fehlte mir ja wie gesagt an Hirn. Eine Stunde später kam der irische Zottel nach Hause, griff nach einer Whiskeyflasche und drosch auf mich und den Hund am Boden ein. Ich hatte nicht mehr einmal Zeit, meine Zahnbürste einzupacken, die ich noch irgendwo hatte, so schnell musste ich weg. Das Leben, lernte ich damals, ist eben ein einziges Auf und Ab.

In Cork, wo ich mir eine frische Zahnbürste kaufte, kannte man damals noch kein Apple, das dort heute angeblich alles dominiert, und auch vom Einfallhafen für Kokain nach Europa, der Cork heute sein soll, kriegte ich nichts mit. Nur der Geruch des Irish Red aus der Brauerei Murphy's, die nicht Jimmy gehörte, kroch mir durch die Nase ins Hirn. Ich probierte das Zeug, aber es schmeckte mir nicht.

"Jimmy's in London"

Von Cork aus orientierte ich mich in Richtung der Festivalstadt Limerick, auf halber Strecke dorthin sollte irgendwo Charleville liegen. Irgendwann sah ich kleine Steinhäuser inmitten von Grün (ja, die grüne Insel!), und alles sah wirklich sehr arm aus. Ich fragte mich mit meinem Ösi-Englisch durch bei Leuten, die meiner Meinung nach auch kein richtiges Englisch sprachen, und als ich mich endlich traute, auch "Jimmy Morphy" anstatt "Jimmy Mörfi" zu sagen, kam ich seiner Adresse näher. Irgendjemand leitete mich "to the left, to the right" und so weiter, und dann stand ich vor einem der kleineren und ärmeren der kleinen und armen Steinhäuser in Charleville im County Cork, und ja, ich hatte beinahe den Eindruck, das Haus bestand überhaupt nur aus einem Keller.

Dort klopfte ich an die Türe, und endlich schaute eine dicke Mama in Hausfrauenschürze heraus, in ihrem Gesicht erkannte ich das ihres Sohnes, es war fleischig und ohne Zähne wie seines, nur fehlte der Bart. Ich fragte sie, ob Jimmy da wäre, aber sie schaute mich nur entgeistert an und sagte: "Jimmy's in London." Drehte sich um und machte die Türe wieder hinter sich zu. Und ich fragte mich kurz, was ich mir eigentlich dabei gedacht hatte, als ich mich eine Woche davor auf den Weg hierher gemacht hatte, um Jimmy Murphy zu besuchen. Nichts hatte ich mir dabei gedacht. Aber das ist ja gerade das Schöne, wenn man jung ist.

Ich weiß nicht, ob Jimmy heute noch lebt. Das viele Guinness, das er damals schon trank, und das unstete Leben, das er damals schon führte, könnten ihm am Ende zugesetzt haben. Aber falls er noch lebt, dann wird er sich als Ire heute vielleicht auch fragen, was aus unserem Europa geworden ist, das er so gern bereist hat und das vielleicht mal so enthusiastisch und planlos aufgebrochen ist wie ich damals nach Irland; das dann vielleicht die eine oder andere Abkürzung zu viel genommen hat, so wie ich damals durch die Schweiz; und dem irgendwann die Freude und Zuversicht abhanden gekommen ist, die einen erst ausbrechen lässt aus den hintersten Tälern in Richtung unbekannter Ziele.

(PS 40 Jahre später: Heute weiß ich, dass Jimmy lebt und sich bester Gesundheit erfreut)

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