Vom Leben am Rand
Foto: Manfred Rebhandl
Angeboten - Abgelehnt
Texte, die keine Zeitung bringt
Ich habe Harald bei einem Willhaben-Kauf kennengelernt, danach erzählte er mir aus seinem Leben. Und wie man mit Rabattmarkerl einkauft.
Harald, so möchte er genannt werden, wurde 1957 im Wiener AKH geboren. Die Eltern stammten aus der Buckeligen Welt und zogen 1952, als sie beide Anfang zwanzig waren, nach Wien. Sie kamen als Untermieter in einer Zimmer-Küche-Kabinett-Wohnung im 16. Bezirk nahe der 10er Marie, des bekannten Heurigens, unter. Als die drei Kinder zu Welt kamen, zwei Mädchen und Harald als einziger Sohn, mussten sie zusammen mit der Vermieterin im Kabinett schlafen. Die Eltern übernahmen den Hauptmietvertrag, als diese 1960 starb. „Da Voda woar Optikermeister, die Mutter war z‘haus, bis wir Kinder in der Hauptschule waren. Dann hat sie einen Hilfsjob angenommen.“ Der Vater, erzählt er weiter, hätte ihn nie gemocht. „Der wollte nie einen Buben, das hab‘ ich gespürt.“ Den Schmerz darüber sieht man ihm noch heute an. „Ich war immer das Schwarze Schaf, das fünfte Rad am Wagen. Daran habe ich mich gewöhnt.“
Das Malen mit der linken Hand abgewöhnt
In der Julius-Meinl-Gasse besuchte er die Volksschule, in der Wilhelminenstraße die Hauptschule. Dem Erstkläßler haben sie die Malstifte aus der linken Hand genommen und in die rechte gedrückt, in die „schöne.“ Er war ein „ruhiges Kind, das wenige Freunde hatte“, wenn er nach den Hausübungen in den Kongresspark ging. „Nur mit einem hab ich mich getroffen, bis wir 40 waren.“ Diesen runden Geburtstag haben sie noch gemeinsam gefeiert, „dann haben wir uns mehr oder weniger aus den Augen verloren.“
Er begann eine Mechanikerlehre beim FIAT in der Schönbrunnerstraße nahe dem Grünen Berg. „24 Lehrlinge waren wir, alles Österreicher, bis auf einen aus Jugoslawien.“ Vormittags hatten sie Theorie, nachmittags wurde gearbeitet. „Aber ein Blinkerglasl habe ich dort nie gewechselt. Und in die Getriebeabteilung bin ich in dreieinhalb Jahren Lehrzeit auch nie gekommen.“
Sein erstes Moped war eine PUCH MS50, aber die lenkte er am Wilhelminenberg gleich einmal ohne Taferl gegen einen VW Käfer: „Ich bin durch die Scheibe eingestiegen, habe mir die Hoden und das Knie geprellt und musste wie der Fahrer des Autos im Gesicht genäht werden.“ Sein „Haberer“, den er mit hatte, schlug einen Salto über den Käfer und kam auf den Füßen zu stehen. Drei Jahre auf Bewährung bekam er dafür, und 8000 Schilling Strafe musste er bezahlen. Eine Schwester borgte ihm das Geld, das er in monatlichen Raten zu 500 Schilling zurückzahlte. Als er schuldenfrei war, borgte ihm der Vater das Geld für sein erstes Auto, einen Fiat 124 in Beige. „Wie eine Melange hat der ausgeschaut“, sagt er. Damit fuhr er am liebsten nach Edlitz in die Buckelige Welt hinaus, wo die Verwandten lebten. „Der Großvater war ein Zwei-Kuh-Ranger“, sagt er. „Und mit seinen zwei Ochsen hat er die Arbeit gemacht, die andere mit dem Traktor machten.“ Sie waren arm.
In der Märchenbar suchte er die Liebe
In Edlitz besuchte er häufig die Märchenbar, die über den Bezirk hinaus bekannt war für die Anbahnung zahlreicher Beziehungen und Vermählungen. Dort drückte er seine Wünsche in die Jukebox, oft Heart of Gold von Neil Young und immer wieder Wer im Wartesaal der Liebe steht, die 1973 erschienene deutsche Version von ABBAS Another Town another train:
Wer im Wartesaal der Liebe steht
Weiß, daß es um alles geht
Und man fragt sich nur wie wird das noch enden?, sangen sie.
„Ich war auf Aufriss“, erzählt Harald. „Aber Glück bei den Mädels hab ich keines gehabt.“ Auch nicht, als er vom FIAT in der Schönbrunner Straße längst zum Moser in die Jörgerstraße gewechselt war, wo man sich auf Autotuning spezialisiert hatte. „Aber das habe ich nicht geschafft, also habe ich dort bald wieder aufgehört.“ Er wechselte zu Stua & Höpfl bei der Ameisbrücke, dem damals größten VW-Händler der Stadt, der später pleite gehen sollte, und tauschte den Fiat gegen einen VW Passat mit 60 PS. Am Freitagnachmittag raste er darin mit 140 km/h über den Grünen Berg hinaus nach Edlitz, am Montagfrüh raste er darin wieder zurück.
Im Auto zu schnell, fürs Bundesheer zu leicht
Zum Fliegerhorst in Langenlebarn, wohin er als 19jähriger einrückte, brauchte er von Wien nur eine Stunde - „Heute sperren sie dich dafür ein.“ Dort schickte man ihn aber nach zwei Wochen wieder nach Hause, „weil ich nur 49 Kilo wog bei 172 cm Körpergröße, obwohl ich in der Früh vor der Arbeit daheim immer sieben Marillenknödel von der Mama gegessen habe.“ Den Präsenzdienst bog er schließlich doch noch als Systemerhalter herunter: „Ich habe Häusl geputzt und Wache geschoben.“
Danach absolvierte er die Ausbildung zum Berufskraftfahrer und lenkte bei den Wiener Linien für 12000 Schilling netto pro Monat den 48 A hinaus zur Baumgartner Höhe, fuhr City Busse in der Innenstadt und den 57A, „in den frühmorgens manchmal der Ostbahnkurti einstieg, mich freundlich grüßte und irgendwo hinten Platz nahm.“ Den Lohn gab er nach Feierabend in Wiener Caféhäusern aus und drückte immer noch ABBA in die Jukebox, wenn er am Wochenende wieder hinaus nach Edlitz in die Märchenbar fuhr:
Wer im Wartesaal der Liebe steht
Hofft es ist noch nicht zu spät
Alles wird sich vielleicht zum Guten wenden
1983 klappte es tatsächlich mit der Liebe: „Sie war 16, ich 26“, erzählt er, und drei Jahre später verließ er als letztes Kind doch noch sein Zimmer bei den Eltern. Gemeinsam zog das junge Paar in die Wohnung im 15. Bezirk nahe der Schmelz, in der er noch heute lebt, 42 m2 im ersten Stock. Seinen Job bei der Gemeinde, wo auch seine Freundin eine Lehre begann, hatte er da „wegen angeblicher Trunkenheit“ bereits wieder verloren. Danach arbeitete er bei Dr. Richard und beim Postbus und fuhr „an drei Tagen 16 bis 18 Stunden, dann hatte ich zwei Tage frei.“ Als seine Freundin, die bei einer Größe von 157 cm nur 37 Kilo wog, an einem Montag auf Kur gehen sollte, wollte er das Wochenende davor mit ihr verbringen. Am Donnerstag aber drückte ihm ein Kollege den Plan für das Wochenende in die Hand mit schönem Gruß vom Chef. „Da hab ich drauf geschissen.“
Nach sechs Jahren Beziehung fand die Hochzeit statt. „Alle Verwandten sind gekommen“, erinnert er sich, im Stüberl eines Gemeindebaus an der Hütteldorferstraße wurde gefeiert, aber das Glück währte nur vier Jahre. Als seine Frau 26 Jahre alt war und sie gemeinsam fast eine Million Schilling – davon ein Großteil aus ihrer Erbschaft - auf der Seite hatten und an Grundstückskauf und Hausbau dachten, verließ sie ihn mit den Worten: „Ich liebe dich nicht mehr, ich möchte frei sein.“ Er war 37 Jahre alt und hatte danach nie wieder eine Beziehung.
Mit 37 Jahren war er alleine
Und auch mit der Arbeit wurde es ab da immer schwieriger. Bis 2000 fuhr er noch für den Installateursgroßhändler Sanopol „in einem mittelgroßen Lkw im westlichen Wien und im Waldviertel herum.“ Bezahlt wurde er für 40 Stunden, aber meistens war er zu Mittag schon fertig: „Mach, was du willst, aber hau‘ das Auto nicht z‘sammen!“, hatte man ihm gesagt. Also fuhr er meistens nach St. Pölten hinaus, wo er einen Tankwart kannte. „Aber eigentlich hätte ich da gar nicht mehr fahren dürfen, da hab ich mich schon komplett versoffen gehabt.“ Als er arbeitslos wurde, saß er meistens in einem Café im 15. Bezirk und trank fünf oder sechs Biere, bevor er nach Hause ging, wo er es alleine nicht aushielt.
„Mit 56 Jahren war ich über den Winter zum ersten Mal für drei Monate in Thailand“, erinnert er sich, aber nicht wegen des Amüsement, sondern wegen der Kosten. Zuhause sparte er auf diese Weise Strom und Gas, und dort gab er während der drei Monate nur 900 Euro aus. „Geschlafen habe ich in einer Pension in Pataya. Meistens bin ich am Vormittag spazieren gegangen, zu Mittag, wenn es heiß geworden ist, habe ich mich hingelegt. Um 17 Uhr bin ich wieder raus und bis 23 Uhr herumgegangen.“ Er wog zwölf Kilo weniger, als er zurückkam, und als er mit 60 noch einmal dort war, hatte er das Gefühl, dass man ihn dort nur noch betrügen würde. Das war es mit ihm und Thailand.
Keine Liebe zu Wien
Aber Wien, sagt er, mochte er auch nie, er wollte immer lieber aufs Land hinaus. Kinder hätte er mit seiner Frau gerne gehabt, aber nur im Grünen. Heute ist er froh, dass daraus nichts geworden ist: „So, wie die Zukunft ausschaut, möchte ich selbst nicht mehr auf die Welt kommen.“ Vor zwei Jahren ist sein „letzter Haberer“ mit 67 gestorben, und am Wahlsonntag im September letzten Jahres starb seine Mutter mit 94 Jahren in der Wohnung, in die sie 1952 als Untermieterin gezogen ist. „Sie war der einzige Mensch, der alles von mir gewußt hat“, sagt er mit Tränen in den Augen. Zur Wahl ging er an diesem Tag aber nicht nur wegen des Todes seiner Mutter nicht: Vertreten fühlt er sich längst von niemandem mehr, „aber selbst ändern kann ich auch nichts, also muss ich mich halt an das gewöhnen, was die da oben machen. Wenn ich den Fernseher nicht zusammenhauen will beim Nachrichten-Schauen, drehe ich ihn lieber gleich nicht mehr auf.“
Dabei ist der Fernseher längst seine einzige Unterhaltung: Er schaut „Wer weiß denn so was?“ oder „Kaum zu glauben!“, Wissenssendungen, Rateshows oder alte Hans Moser Filme. Und noch früher „bin ich fast vom Sessel gefallen, als ich Vier Fäuste für ein Halleluja gesehen habe.“ Das war im Odeon-Kino, das es auch längst nicht mehr gibt.
Ehemaliges Odeo Kino in der Ottakringer Straße
Mit Fahrrädern hat er es noch probiert
Während der letzten Jahre reparierte und verkaufte er noch gebrauchte Fahrräder: „In der Zeit, in der ich im Keller am Radl gearbeitet habe, war ich wenigstens nicht im Kaffeehaus und habe Geld ausgegeben.“ Er bekommt knapp über 1000 Euro Pension, davon bezahlt er 300 Euro Miete für die Wohnung. Einkaufen tut er in allen Supermärkten streng nach Angeboten, sammelt aber nirgendwo Markerl, „weil da musst du um mindestens zehn Euro einkaufen.“ Neulich beim SPAR gab es die Kiste Stiegl-Bier „um 13,80 statt normal um 27“, also hat er gleich zwei davon genommen. Er räumte 36 Flaschen in sein Einkaufswagerl und steckte vier in seinen Rucksack, ließ Wagerl und Rucksack bei der Kassa stehen und brachte die Kiste gleich wieder zu den Retouren, wo er sich das Pfandgeld holte. Da hatte er das erhebende Gefühl, irgendwie alles richtig gemacht zu haben. Auch der Kassenzettel stimmte, den er sich immer misstrauisch anschaut. „Gestern war das Geschirrspülmittel beim Spar um 1,19 angeschrieben, bezahlt aber habe ich 1,29. Was glaubst du, wie oft die dich bescheißen?“
Zum Frühstück ißt er meist zwei Semmerl mit Wurst oder Speck. Vor ein paar Tagen hat er am Meislmarkt drei Kilo Schweinsgulasch im Angebot bekommen, die er zu acht Portionen verkochte, sieben davon hat er eingefroren. Für die Nockerl hat er Mehl aus der Wohnung der Mutter genommen, das vor dreizehn Jahren abgelaufen war. „Ein paar schwarze Kugerl waren halt drinnen, die hab ich raus genommen, dann hab ich es mit frischem Mehl vermischt. Wird ja sowieso viel zu viel weggeworfen heutzutage.“
Mutters Erbe und Ausblick ins Jenseits
Die Mutter hat ihm aber auch ein wenig Geld vererbt, und von dem kaufte er sich vor kurzem einen Rohbau im Burgenland. Mit seinem 55 PS Golf zweiter Generation fährt er nun öfter dorthin. Sein Cousin hat sechs Enkerl, erzählt er, denen wird er das Haus irgendwann vererben. Und auch sonst weiß er schon genau, wie es weitergehen soll: „Ich will in einem Wellpappenkarton drin liegen und hinein mit mir in den Ofen. Dann werd‘ ich viel länger tot sein als ich darauf gewartet habe, geboren zu werden.“
Und es klingt nicht so, als hätte er jemals wirklich darauf gewartet.