Vom Ende der Bücher
Foto: Manfred Rebhandl
Angeboten - Abgelehnt
Texte, die keine Zeitung bringt
In der Grenzgasse in Wien-Fünfhaus gibt es noch ein Romantauschgeschäft, wo Bücher und Hefterl gegen 40 Cent Gebühr ausgeborgt werden. Die meisten aber werden entsorgt. Herr Bitterer erzählt.
“Darf‘s ein bisserl weniger sein?“
Während in Wien die Buchmesse startet, wissen die Betreiber der wenigen Romantauschgeschäfte der Stadt, was mit all den Büchern und Heften passiert, die in der Stadt niemand mehr braucht.
„Wir hatten ein Riesenglück damals“, erzählt Andreas Bitter, 64, in schönstem Wienerisch von den Anfängen seiner Familie am Wiener Kagraner Platz. „Weil dort auf der einen Seite der Hofer war und auf der anderen der dm. Und in der Mitte waren wir.“ Eine U-Bahn-Station gab es damals noch nicht, die zur Hektik des Tages beigetragen hätte, und das Freizeitangebot war insgesamt nicht so berauschend: „Was hat es denn gegegeben?", fragt er. „FS 1 und FS 2!“, die beiden Sender des öffentlich-rechtlichen ORF. Aber keine Handys, in die heute alle starren.
Also schauten die Leute halt bei ihnen im Romantauschgeschäft vorbei, das der Vater im August 1980 eröffnet hat, „es war voller Kinder, die fünf Schilling für ein Micky Maus-Hefterl bezahlt haben.“ Zuvor war der Vater Angestellter in einem Futtermittelgeschäft gewesen. Als er sich aber beruflich neu orientierte, ließ er sich von der Leidenschaft seiner beiden Söhne Andreas und Manuel leiten: „Ich war ein Westernfan!“, erzählt Bitterer von seiner Liebe zu „Schundhefterln“, Titel wie Super Western, Western Hit, Western Express, Texas Western oder Westernmann landeten wöchentlich in den Trafiken der Stadt, 60 Seiten Text plus ein möglichst verlockendes Cover. Pro Quartal finanzierte ihnen die Mutter 100 „frische“ Hefterl (50 Western, 50 Horror) im nächstgelegenen Tauschgeschäft, das machte 80 Schilling Tauschgebühr anstatt des deutlich höheren Kaufpreises. „Man sagt heute immer: die schlechten Zeiten! Dabei haben die Leute auch in den 80er Jahren auf jeden Groschen geschaut! Romane hat sich keiner leisten können. Darum haben alle Schundhefterl für ein, zwei Schilling gelesen.“
Damals, als sich seine eigenen Leidenschaften entwickelten. Eine Lieblingsserie war der Dämonenkiller aus dem Pabelverlag, eine Horrorserie, die von 1973 bis 1977 von den beiden österreichischen Autoren Ernst Vlcek und Neal Davenport geschrieben wurde und von der er alle 134 Hefte zuhause. „Die Handlung spielt Mitte bis Ende der 70er Jahre in Wien. Man hat später Neuauflagen und Bücher herausgebracht, aber das hat nicht mehr so gepaßt.“
Bei den Western war sein Einstiegsdroge Bessy, bevor er auf die (Gert Fritz) G.F. Unger-Reihe umstieg, von der seit 1980 alleine 697 Einzelromane immer wieder neu aufgelegt werden. „Der Unger war ganz gut“, sagt er. „Aber ich kenne bessere.“ Die Wildwest-Serie beispielsweise, die sein Großvater las. „Der hat – wie es früher halt so war – eineinhalb Stunden in die Bude gebraucht, er war Kühlerspengler bei Gräf & Stift, und da hat er auf der Fahrt einen Roman ausgelesen. Den hat er unter den Kollegen getauscht. Wenn er wieder bei ihm war, hat er ihn eingeheizt. So war das.“
Western waren so beliebt, „weil in den 50er- und 60er-Jahren die Western-Filme aus Hollywood kamen, John Wayne, John Ford... Da sind die Deutschen Verlage mit ihren eigenen Autoren auf den Zug aufgesprungen und haben eigene Serien herausgebracht, ein Riesengeschäft.“ Heute wäre der Western im Film mehr oder weniger passé, aber in seinem Geschäft halten ihm die Fans noch immer die Treue. Erst heute kam wieder einer herein, der gab 54 Western zurück und nahm 35 „frische“ mit. Lieber wäre ihm mittlerweile allerdings, wenn er sie nicht mehr zurückbringen würde, denn er hat einfach zu viele.
Bitterer sitzt heute in seiner Filiale im 15. Wiener Gemeindebezirk, keine hundert Meter nördlich der belebten Äußeren Mariahilfer Straße, wo sie früher ihr Geschäft hatten, nun aber viel zu weit weg von der erwünschten Kundenfrequenz. Manchmal kommen daher nur noch zwei Kunden pro Tag herein, die Romane oder sogenannte Schundhefterl im Gegenwert von vielleicht fünf Euro tauschen, und an manchen Tagen kommt auch gar niemand mehr. Ein paar Krimifans gibt es noch, „die hauptsächlich Wilton (ab 1948) und Cotton (ab 1951) lesen. Der Wilton ist – wenn Sie mich fragen – fad, mehr so in der Spur von der Agatha Christie – natürlich nicht so gut –, während der Jerry Cotton mehr Dirty Harry oder James Bond ist.“ Manche sind so sehr auf Wilton fixiert, dass sie die Hefte schon sieben Mal gehelsen haen müssen, weil sie keine neuen finden.
Und auch eine in Jugoslawien geborene Pensionistin kommt verlässlich, die sogenannte „Jugo-Romane“ liest, extra für die damals in die Stadt strömenden Gastarbeiter in ihrer Sprache verfasste Liebesgeschichten, die in Stößen bei ihm herum liegen. Oder eine „jüngere Dame“ – unter 60! – die leicht erotische, oft historisierende Romane wie Julia liest. Bis zu zehn solcher Romane werden wöchentlich oder monatlich geholt. Er kennt aber auch eine, die drei dieser Romane an einem Tag liest. „Das sind tausend Seiten!
Romantauschgeschäfte, erzählt er, waren früher über die ganze Stadt verteilt, an die 300 soll es in Wien mal gegeben haben, die Leute sehnten sich nach „Aufbauendem, Sehnsuchtsvollem und Tröstendem“, egal ob in Buchform oder als Hefterl. Heute jedoch liegen „Schiller, Goethe und Grillparzer“ bei ihm in den Regalen herum wie schwere Bleiplatten. Was er damit noch machen kann? „Entsorgen!“, sagt er. Aber das Wort überhaupt auszusprechen, fällt ihm nach 43 Jahren im Geschäft hörbar schwer. Es gingen ja viele Tonnen dieser „Ware“ durch seine Hände, und mit beinahe jedem Buch oder jedem Hefterl verbindet ihn eine Geschichte.
Robbins und Simmel? „Gingen nie!“, sagt er. „Nicht einmal, als sie aktuell waren!“ Dann vielleicht Österreichische Autoren? „Uninteressant!“ Der Horrormeister Stephen King? „Ging früher gut, heute auch nicht mehr!“ Klassische Krimis wie Mickey Spillane oder Rex Stout? „Ebenfalls früher!“ Auch Francis Durbridge weckt positive Erinnerungen in ihm, auf dessen Vorlage eine TV-Serie namens Das Halstuch basierte, die 1962 ein richtiger Straßenfeger gewesen sein muss: „Da ist meine Mutter am Abend mit meinem Vater zu seinen Eltern gefahren, weil die damals schon einen Fernseher hatten!“ Wir reden von der Zeit vor der Mondlandung.
Der weitere Abend seiner Eltern wird dann damals hoffentlich so romantisch verlaufen sein wie in einem der unzähligen Arzt-, Adel- oder Alpendoktorromane, von denen sie hier immer noch um die 200 verschiedene Titel im Angebot haben. „In denen wird immer die gleiche Geschichte erzählt“, weiß der Profi. „Zwei verlieben sich, trennen sich und kommen wieder zusammen.“ 40 Cent bezahlt man heute, wenn man sich so einen Titel für eine Woche bei ihm ausborgt.
Ebenfalls das Herz höher schlagen ließen die sogenannten „Nackenbeißerromane“, auf deren Cover sich immer der kußbereite Mund eines Mannes dem einladenden Hals einer Frau näherte. „Geheimnisromane“ wiederum sollten Spannung in das nicht nur aufregende 50er- bis 70er-Jahre-Leben der Hausfrauen bringen, wohingegen sogenannte „Spuklicht“-Serien ihnen den leichten Schauder liefern sollten. Auf deren Cover war im Hintergrund immer ein Schloß zu sehen, in dem noch ein einzelnes Licht brannte. Uuuuh!
Auch der „Horrorroman“ ging mal sehr gut über Bitterers Ladentisch, bis 1968 hieß freilich alles „Fantastische Geschichte“, was irgendwie „utopisch“ war oder mit „Fantasy“ und „Grauen“ zu tun hatte. Den Ausdruck „Horrorroman“ kreiierte schließlich der Zauberkreis-Verlag mit Dan Shockers Serie Larry Brent - Das Grauen schleicht durch Bonnards Haus. Auch heimische Serien wie Kommissar Wiltons Kriminalberichte erfreuten sich als „Der Kriminalroman der Woche“ im Österreich der 1950er und 1960er Jahre großer Beliebtheit und tröpfeln als Nachdrucke sogar immer noch auf den Markt. Wobei, so Bitterer, es den Leuten egal wäre, wenn sie immer wieder buchstüblich das gleiche lesen würden. Band 23 war mal Band 87? Wen kümmt´s!
Den wirtschaftlichen Höhepunkt erlebte sein Geschäft freilich in den 90er Jahren mit Sex und Porno. Der Verkauf erotischer Magazine hatte bereits in den 70er-Jahren Fahrt aufgenommen, billig produzierte Heftchen wie Week-end Sex (Untertitel: Ein Wochenblatt, das Kontakt schafft) brachten dem Verleger Geld durch Inserate der Unterkategorien Herr sucht Freund oder Dame sucht Ehepaar: „Sauberkeit wird verlangt, aber auch geboten“, hieß es darin gerne. Nach Öffnung des Eisernen Vorhangs gab es einen regelrechten Pornohefte-Tourismus. Hardcore-Enthusiasten aus Ungarn oder Tschechien lechzten nach Titeln wie Pleasure, Private oder Rasiert, die man sich zwar auch für 220 Schilling hätte originalverkpackt kaufen können. Aber bei ihnen konnte man sich halt für die gleiche Summe Tauschgebühr gleich sechs „gebrauchte“ ausborgen, was ihnen goldene Jahre bescherte.
Noch mehr Geld brachten VHS-Cassetten, die um unglaubliche 1250 Schilling pro 30 Minuten eingschlägigen Inhalts über den Ladentisch gingen. Und sogar Super-8-Filme der Reihe Color Climax fanden ihre Käufer, nachdem sie zuvor meist in Koffern mit alten Büchern, die man ihnen ins Geschäft gestellt hatte, zu finden waren: „Bitte, nehmt Ihr das vom Opa, mir ist es zu schade zum Wegwerfen,“ hörten sie damals oft.
Heute nennt er selbst „Hinausgeschobene Entsorgung von Altpapier“, was er hier macht. Und von vielem, was die Kunden mitnehmen, hofft er, dass sie es nie mehr zurückbringen mögen. Schon bei der Übersiedlung von der Mariahilferstraße hierher ließen sie hunderte Kilo Das Beste aus Readers Didgest zurück. Oder Perry Rhodan: Von denen hat er noch heute 4000 Stück in Kisten liegen, und zwar 4000 Stück zu viel. Micky Maus? Fix und Foxi? Buchstäblich zum Wegschmeißen. „Interessiert keinen mehr!“ Auch, weil die Sammlungen heute alle komplett wären und niemand mehr fehlende Titel suche.
Trotzdem wird er die eineinhalb Jahre, die ihm noch bis zur Pension fehlen, weiterarbeiten, denn: „Wenn ich in der Früh fortgehe von zuhause, dann freue ich mich auf das, was ich mache.“ Und wenn er Kunden bei der Türe hereinkommen sieht, dann freut er sich auf die. „Alle sind positiv gestimmt, weil sie etwas für ihre Freizeitgestaltung suchen. Sie kommen frohen Sinnes und gehen frohen Sinnes, außer, ich kann ihre Wünsche nicht erfüllen.“ Bestellungen aufnehmen, das macht er nämlich nicht mehr. „Soll ich Perry Rhodan Band 317 in dem Stoß mit 4000 Hefterln suchen? Wegen 40 Cent Tauschgebühr?“
Romantausch Bitterer, 1150 Wien, Grenzgasse 12/Ecke Viktoriagasse
https://www.findglocal.com/AT/Wien/1341504402577027/Romantausch-Bitterer