Spaziergang: Durch die Breitenfurter Straße
Fotos: Manfred Rebhandl
Angeboten - Abgelehnt
Texte, die keine Zeitung bringt
Im Frühling 2020 war mir fad. Ich ging die fünf Kilometer vom Meidlinger Schedifkaplatz die Breitenfurter Straße hinaus nach Liesing.
Ein Spaziergang
März 2020
Wiener Frühlingsspaziergang einmal anders: Im leichten Anzug, mit leichtem Hemd und in leichten Schuhen steige ich Wandersmann am Meidlinger Schedifkaplatz in die Breitenfurterstraße ein wie ein schlecht ausgerüsteter Bergsteiger in die Wand, als eine Kindergartengruppe in gelben Warnwesten, aber ohne politisches Anliegen, um die Ecke biegt und „die Schadia“ sich von ihrer Betreuerin anhören muss: „Geh nicht so schnell!“
Ich selbst aber muss mich sputen, denn die Breitenfurterstraße ist lang, und ich will sie an diesem kühlen Märztag zumindest bis nach Liesing gehen, laut Routenplaner sind das sechs Kilometer, immerhin. An ihrer Hausnummer 1 steht der Franz Hemala Hof..
…, erster von insgesamt 13 Gemeindebauten entlang dieser lauten und viel befahrenen Straße. In einem noch aufzusperrenden Gastgarten gleich daneben liegt ein Kehrbesen im Schatten der Gewitterwolken, die sich schon am Vormittag immer wieder vor die Sonne schieben. Der Frühling lässt noch auf sich warten.
Ich wechsle hinüber auf die nördliche Seite der Straße, wo in einer Grünfläche Bäume mit fortlaufenden Nummern markiert sind, in ihren Ästen hängt schwarzes Plastik. Rechts unter mir, hinter verdreckten Sträuchern, donnern die Autos über die hier abgesenkte Fahrbahn. Ein paar „Fußgänger“-Schilder weisen mir den Weg durch eine Unterführung, deren „Fahrdrahthöhe 4,20 m“ beträgt.
Ab dem Breitenfurter Hof, der recht einsam an der Ecke Schneiderhangasse herumsteht, bessern zwei Arbeiter der MA den Gehsteig mit flüssigem Asphalt aus. Sie werden das heute noch bis zur Hausnummer 40 tun, wie sie mir erzählen, und wissen weiters zu berichten, dass an dieser Straße „zur Zeit viel gemacht wird, weil immer mehr Leute hierherziehen.“ Manche von diesen Leuten werden Nachwuchs zeugen und diesen in den Kindergarten an der gegenüberliegenden Straßennummer 85 schicken, an dessen Fenstern den ganzen Tag lang Autos und LKWs vorbeidonnern. Hoffentlich hat er einen ruhigen Garten nach hinten hinaus.
Ich komme an der ersten von wirlich sehr vielen Autowerkstätten an der Breitenfurterstraße vorbei. Diese hier wird von Alberto betrieben, einem 70jährigen gebürtiger Perser, der seit 40 Jahren in Wien lebt. Er bittet mich freundlich in sein voll geräumtes Büro, wo wir schwarzen Kaffee trinken und er mich mit einem kleinen Teil seiner Lebensgeschichte vertraut macht: Der Vater war Ukrainer und jüdisch, die Mutter ebenfalls jüdisch und aus der Gegend um Buchara in Usbekistan, beide stammten mütterlicherseits aus Griechenland, wo die Familie noch heute Grundstücke, Häuser und Werkstätten besitzt. Eine seiner Töchter lebt als Ärztin in Australien, eine andere studierte in Skandinavien Musik und ist heute eine bekannte Dirigentin. „Wir sind international“, sagt er, und doch werden seine Augen feucht, kaum dass er an Persien nur denkt. Mit seinem Magiurs Deutz Wohnmobil war er schon 19 Mal dort zu Besuch, aber was bringt ein Besuch in der Heimat, wenn man sie verloren hat?
Auf einer Hebebühne in der Werkstatt thront seit zehn Jahren ein roter Mercedes /8…
…, den er einem Deutschen Arzt zu einer Zeit abgekauft hat, als die Währung noch Schilling hieß und er schlanke 500 davon für den Benz springen ließ. „104000 Kilometer ohne Rost mit Original Radio und wunderschöner Innenausstattung“ hat er zu bieten, „was sagst?“
Ich sage, dass ich kurz überlegen werde, ob ich meine Wanderung bereits hier an Nr. 34 abbrechen und mir dieses wunderschöne Auto kaufen soll. Aber die 10.000 Euro, die Alberto sich als Kaufpreis dafür vorstellt, habe ich gerade nicht bei mir, und außerdem mag ich ja sowieso keine Autos mehr, seit sie so schiarch sind - nur, dass der halt extrem schön ist! Alberto verabschiedet mich trotzdem freundlich mit der Einladung, ihn jederzeit gerne wieder zu besuchen, und ich gehe wie geplant zu Fuß weiter.
An Hausnummer 185, bei der Bushaltestelle, steht eine ältere Dame mit Pudelhaube und wartete auf den 62A in Richtung Meidling. Sie wohnt hier gleich um die Ecke und sagt über ihre Straße: „Natürlich war es früher besser, mit mehr Grünflächen und weniger Verkehr und so“. Allerdings sagt sie auch: „Wer schafft die Arbeit? Die Wirtschaft schafft die Arbeit!“ Schon lacht sie schallend über die Ministerin, die uns diesen kreischenden Satz einst geschenkt hat, dann kommt schon ihr Bus und sie steigt ein: „Auf Wiederschau’n!“ – „G’sund bleim!“
Ich quere die Kirchfeldgasse und bewege mich bei Hausnummer 114 b vom 12. in den 23. Bezirk hinüber. Dort gehe ich vorbei an einem – Überraschung! – weiteren Autohaus, das neben Lee´s Wok liegt, das wiederum vor einem „Partner in Sachen Glas“ liegt, durch die Abachtgasse hinunterblickend kann ich die Hochhaustürme von Alterlaa sehen. Und dann sehe ich endlich die ersten Frühlingsblümchen, die sich in einem Grünstreifen inmitten hunderter, nein, tausender Zigarettenstummel, die wohl beständig aus den vorbeirasenden Autos geworfen werden, aus dem Boden drängeln.
Es ist halb elf und immer noch saukalt, und es wird auch an der Kaffeerösterei Hawelka auf Nr. 158, die mit knospenden Stauden umwachsen ist, nicht wärmer. Ein „Reifenhotel“, was immer das sein mag, liegt gleich dahinter, und vor diesem zerlegen zwei Arbeiter mit ihrem Hilti-Schlagbohrer ein Stück Stahlbeton in seine Einzelteile, um ihn durch anderen Beton zu ersetzen: „2000 m2 zu vermieten!“, steht auf einem Schild, eine Autowerkstatt wird sich schon finden und zuschlagen, oder ein weiterer Supermarkt.
Der „Frisörsalon Erich“ auf Nr. 196 hingegegen scheint seine besten Tage längst hinter sich zu haben, anders als der gleichnamige Starfrisör im ersten Bezirk, der sich aber ErIch schreibt. Dahinter rittern das „Futterhaus Tierisch gut“ und ein weiterer „McDonalds“ um das Geld in den Taschen hungriger Tiere und von Menschen. Der „Kilometerstein 5“ steht in einer Grünfläche, in der neben Zigarettenstummeln zahlreiche andere, große Steine liegen, die wohl das Geschäft „Schubert Stone“ gegenüber auf 249 bewerben sollen. Meine persönliche Wolke, die mich nun seit Beginn der Wanderung begleitet, will nicht so recht verschwinden, das Schneidige geht also nicht alleine von „Hoffmann Kälte“ aus, das auf Höhe 261 um die Ecke in der Gastgebergasse liegt.
Beim Campingplatz Wien Süd auf Nr. 267 beschleunige ich, um auf Touren zu kommen, ein alter Mann auf seinem Elektrowagerl mit seinen Krücken hinten drin nimmt das Rennen mit mir auf und – gewinnt. Ich atme durch, als sich ein junges Elternpaar mit seinem Kleinkind im Wagerl um die Aufteilung der Chipssäcke streitet. Aber was sollen sie auch sonst essen, wenn es hier kein einziges Wirthaus mit Schnitzerl mehr gibt, dafür schon wieder einen BILLA mit Chips?
Halb erfroren betrete ich endlich das Café Grande auf 238, in dem „gepokert und geschnapselt“ wird. Dort setze ich mich an einen Fensterplatz und lasse mich von der Sonne auftauen, die nun endlich scheint, alle außer mir trinken Spritzer oder Bier. Am Nebentisch diskutieren drei Altspatzen, wo es jetzt noch zum Schifahren gehen könnte, dann ruft der Ferdl den Gustl an in der Sache, „wie die Hütt’n heißt, wo die Sandy die Feier macht und wo es nur Hendl gibt, kane Schnitzel? Waaßt, wos i maan?“ Es ist die Waldschenke, wie wir erfahren, als eine wirklich fesche Schwarzhaarige hereinkommt und sich zu den Tranklern an die Bar setzt, was eine Übersiedlung dorthin wünschenswert macht, allerdings: Ein Wanderer muss wandern!
Also bezahle ich zu „Hey Baby!“ vom DJ Ötzi und steuere an der Ecke Levaseurgasse Nähe dem Atzgersdorfer Platz das Uhren- und Juwelengeschäft Stuetzl an, das eingezwängt zwischen Apotheke und Zulassungsstelle liegt und mit „Abverkauf bis Ende April“ lockte, allerdings im letzten Jahr. Die Zettel hängen noch da, die Inneneinrichtung, sehe ich durch die Fenster, wurde im 50-Jahre-Style belassen. Das Ehepaar Stuetzl hat den Laden in den 80er Jahren übernommen und bis in die 90er Jahre gut verdient, erzählt mir der Sohn, der noch ein anderes Geschäft betreibt, als ich ihn anrufe, um zu fragen, was mit dem Geschäft passiert. Es gibt keinen Nachmieter. Um die Ecke, im 1 Euro Shop, sehe ich endlich die ersten Blumen, aber sie sind aus Plastik.
Im „Pita Raum“ auf Nr. 262 gönne ich mir eine Plescavica, gegenüber führt mich ein „E-bike- Experte“ in Versuchung, schön langsam wird es zäh. Wenigstens habe ich die Sonne nun vor mir, sie scheint mir ins Gesicht, als ich die nächste Eni-Tankstelle passiere und den nächsten BILLA. Ab dem Wilhelm Hartl-Hof, „errichtet 1956 bis 58“ auf Nr. 300, wechseln sich gelbe Fassaden mit blauen ab, als wäre man in Schweden. Und als ich auf 339 das Geschäft „Blumen Watkins“ betrete, schaue ich in die tiefblauen Augen von Iryna, der Gattin des namensgebenden Ehemannes, eines gebürtigen Amerikaners. Sie selbst kommt aus Minsk in Weißrußland, lebt aber als Österreicherin schon lange direkt über dem Blumenladen, daher kommt ihre Klage darüber, dass die Breitenfurter wirklich sehr laut ist, aus berufenem Munde. Dafür wären die Leute jetzt nach dem Winter deutlich besser gelaunt und kaufen bei ihr Tulpen, Ranunkeln und vor allem Palmkatzerln (aus Österreich) auf Vorrat.
Ich passiere eine weitere Brachfläche, an der bald ein weiterer Billigdiscounter seine noch billigere Ware anbieten wird, als sich die Straße plötzlich wie eine Gabel teilt und nun linkerhand Fröhlichgasse heißt. Ich aber bleibe auf der etwas tristeren Breitenfurter und betrete auf 377 den Eissalon Piero bei immer noch huschigen Temperaturen.
Besitzerin Monika aus Polen lässt mich die Sorte Marille-Grappa kosten, während ihr Mann Hamid, gebürtiger Perser, hinter der Türe gerade neun Liter Grüner Apfel-Eis anrührt. „Wir sind immer gut drauf“, lacht sie überzeugend. „Denn wir haben seit 23 Jahren ein wunderschönes Leben nur wegen dem Eis!“ Sie hat Hamids Sprache gelernt, die „wie ein Lied“ klingt, „wie Musik“, und er ihre, über deren Klang er sich lieber nicht äußert. Einmal pro Jahr fahren sie für eine Woche in ihre jeweiligen Herkunftsländer. „Eine Woche mit viel Alkohol“, verweist Monika lachend auf die Gebräuche der Polen, „und eine Woche ohne“.
Mit zwei Kugeln Zitroneneis im Stanizerl gehe ich die Straße bergan und quere die Bahnstrecke. Auf der anderen Seite gehe ich hinunter zum Liesinger Platz, wo vor der Bücherei einer mit heraushängender Wampe zufrieden in der Sonne steht und sein Bier trinkt.
Der Frühling hat endlich doch noch begonnen.