Stromkasten Knöpfe

Mal sind sie fünf Zentimeter hoch, mal bis zu dreißig. Die gezeichneten Köpfe finden sich an den Wänden der Stadt, an Eingangstüren, Garagentoren, Klingelschildern oder - am häufigsten - auf Stromkästen. Den an einer Lieferantentüre in der Blutgasse in Wiens Innerer Stadt, vor dem er nun steht, hat Gerald Stocker im Herbst letzten Jahres entdeckt, als er gerade auf dem Weg in ein nahegelegenes Tonstudio war. Musik ist sein Beruf, die Köpfe sind sein Hobby.

Der studierte Theaterwissenschafter arbeitet an der Wiener Volksoper und hat 2004 den Protestsongcontest im Rabenhoftheater ins Leben gerufen. „Nebenher bin ich Sammler“, sagt er. Zu Beginn des Jahres 2021, mitten im Lockdown, spazierte er mit seinem Sohn durch die Josefstadt, weil er Streetart fotografieren wollte. Anstatt hässlicher, nichtssagender Taggs, wie sie sich überall in der Stadt finden, sahen sie plötzlich den ersten Kopf. „Seither ist es wie mit den Panini-Pickerl“, sagt er. „Ich will sie alle.“ 1069 Portraits sind es, die er bis heute gefunden hat. „Ich glaube, ich bin à jour“, sagt er. Aber dann tauchen doch immer wieder neue auf.

Über den Zeichner weiß er bis heute nichts, obwohl er seit vier Jahren über ihn nachdenkt und die Suche nach weiteren Köpfen den Großteil seiner freien Zeit beansprucht. Oder das Nachgehen von Hinweisen. Denn um die 150 Menschen sind es mittlerweile, die ihn auf Köpfe hingewiesen haben. Die meisten kannte er freilich schon, darunter richtige „Ostereier“, wie er sie nennt. Portraits an schwer zu findenden und kaum begangenen Wegen. Meistens nimmt er das Rad, um nach ihnen Ausschau zu halten, jeden Samstag und Sonntag bis zu vier Stunden.

Die ausschließlich männlichen Portraits finden sich meist in einer Höhe von 1,80 Metern, was ihn mutmaßen läßt, dass es sich beim Zeichner um einen Mann handelt. Diese Vermutung unterstreichen die Köpfe, die er auf Herrentoieltten sogenannter Wiener Alternativlokale gefunden hat: Dem Futuregarden, dem Amerlingbeisl oder dem Café Frida am Yppenplatz. Dass sich ein Kopf auch auf der Damentoilette des Wienen Votivkinos fand, schreibt er eher einer Vewechslung zu: „Wahrscheinlich hat er selbst nicht gemerkt, dass er sich in der Türe geirrt hat.“

Die Art der Lokale läßt ihn denken, dass der Zeichner gebildet und um die 50 Jahre alt sein muss. „Ein Künstler vielleicht mit einschlägiger Ausbildung.“ Erst unlängst entdeckte er nämlich einen Kopf auf der Toilette der Akademie der Bildenen Künste. „Würde dort jemand hingehen, der keinen Bezug zur Kunst hat?“, fragt er sich seither.

Die Portraits erinnern Stocker an Figuren von Sempe oder Hergé, der Strich der Zeichnungen wäre sicher, man erkenne eine klare Linienführung. „Es sind aber keine Karikaturen, alle schauen ernst, nie sieht man einen lachen. Die Gesichter haben, so einfach sie sind, einen Charakter.“ Manchmal ist der Kragen mitgezeichnet, manchmal die Krawatte, manchmal ein Teil des Oberkörpers. Betrachtet man alle Portraits auf seiner Website, könnte man denken, es wären Abgeordnete zum Nationalrat aus den 1960er Jahren. In einem glaubt er sogar Kreisky zu erkennen. Dass sich selten auch ein paar „Langhaarige“ darunter finden, lässt Stocker vermuten, dass der Zeichner auf seine Umgebung reagiert und spontan arbeitet: „Ich stelle ihn mir vor, wie er in der Straßenbahn sitzt und jemanden sieht, den er verewigen möchte“, denkt er laut nach, nur um sofort Zweifel an seiner eigenen Theorie zu äußern. „Oder macht er sich doch vorher Scatches und geht mit denen hinaus?“

Was Stocker sicher weiß: „Er zeichnet meist mit einem schwarzen Edding. Manchmal hat er aber auch einen weißen Lackstift dabei, mit dem er auf Holztüren zeichnet. Diese Portraits sind flächiger, da haben die Köpfe oft dichteres Haar.“ Was hingegen nur vermuten kann: „Dass es sich um einen Rechtshänder handelt, weil alls Portraits nach links ausgerichtet sind.“ Anfangs waren die Köpfe recht einfach und zeigten oft Männer mit Glatze, in einer „späteren Phase“ zeichnete er oft Köpfe mit streng gezogenen Seitenscheitel. Da hatte Stocker kurz Angst, dass er sich in einschlägigen Kreisen bewegen könnte, aber diese Vermutung zerschlug sich.

Dass er an den Portraits mittlerweile eine Entwicklung zu erkennen glaubt, liegt an der sorgfälgen Katalogisierung aller Portraits mit Fundort und Funddatum. Sie ähneln der Markierung eines Hundes und könnten eine Botschaft haben: Sehr her, hier war ich! Mittlerweile glaubt Stocker sogar, die Wege des Zeichners nachgehen zu können. „Er macht nächtliche Spaziergänge“, vermutet er, „während der er seine Köpfe zeichnete, immer mehrere auf einmal, manchmal bis zu 15.“ Selten an stark befahren Straßen, meist in Nebengassen eher ruhiger Wohngegenden in beinahe allen Bezirken.

Die Nacht würde ihn vor unerwünschten Beobachtern schützen. Schließlich wäre, was er tut, ein Akt von Vandalismus oder Sachbeschädigung. Manche Köpfe fänden sich daher schon am nächten Tag nicht mehr, weil die Hauseigentümer sie entfernen ließen. Andere Eigentümer wiederum wüßten diese Form der Streetart durchaus zu schätzen. „Im zweiten Bezirk habe ich mal einen an einer Wand entdeckt, den man hinter Plexiglas regelrecht geschützt hat“. Da denkt er auch mal an an Banksy, jenen englischen Streetart Künstler, um dessen Identität sich auch wilde Mythen ranken.

„Ganz sicher weiß er mittlerweile, dass er wahrgenommen wird“, sagt Stocker. Nachdem er nämlich einmal etwas über die öpfe auf Facebook gepostet hatte, fanden sich in den Tagen danach im zweiten Bezirk vierzig neue. „Da war er motivert“, lacht Stocker. „Vielleicht freut er sich über die Aufmerksamkeit.“

Die Anfänge verortet er im 17. Bezirk um die Blumen- und Beheimgasse. „Dor war so ein erstes Nest“, sagt er

Manch weiße Fläche wirkt auf ihn irritierend: „Warum gibt es im viertem und fünften Bezirk, die ja auch innerstädtisch liegen und stark verbaut sind, so wenige?“

Eine neue Wendung erfuhr seine Sammlerleidenschaft, als man Köpfe in Belgrad, Rovijn und Triest fand. Als er von dem in Triest erfuhr, war er selbst gerade in Miramar und dachte: „Das gibt´s ja nicht!“ Sofort fuhr er in die Stadt und fotografierte den Kopf, zwei Stunden lang suchte er nach weiteren - erfolglos. „Vielleicht hat er dort irgendwo in einer AirbnbWohnung Urlaub gemacht?“, fragt er sich seither. Erlebenisse wie diese lassen manche Fans seines Projekts mutmaßen, dass er selbst der Urheber ist. „Das ist natürlich lustig“, sagt er. „Manchmal überlege ich schon, wie ich beweisen könnte, dass ich es nicht bin.“

Obwohl Stocker sich seit über vier Jahren mit dem Zeichner der Portraits beschäftigt, fragt er sich nun, ob er ihn überhaupt noch kennenlernen möchte. „Schließlich ginge dadurch der ganze Reiz verloren.“ Ein paar Fragen würde er ihm aber schon stellen wollen, falls er seine Anonymität jemals aufgibt: „Ob er seine Köpfe selbst dokumentiert?“ Dann könnte er seine Sammlung mit der des Urhebers vergleichen, was ihm aber auch ein wenig Sorge macht: Was, wenn ich allzuviele übersehen habe?“. Eine weitere Frage wäre, warum er nur Männer zeichnet. Darauf gibt er sich selbst eine Antwort, die freilich nicht stimmen muss: „Männer kann man auch schiarch zeichnen mit Glatze oder fliehendem Kinn, da ist er schneller fertig.“

Solange er nicht weiß, wer die Köpfe zeichnet, sucht er weiter. „Nummer 1111 habe ich nun im Visier“, sagt er.

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Hallo was lesen Sie, Franz Adrian Wenzel?

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Mit dickem Fell ins Jüdische Museum