Reinhold Bilgeri
Foto: Hauptverband des Österreichischen Buchhandels
Der Autor, Musiker und Filmemacher beschreibt in seinem neuen Roman "Das Gewissen der Tauben" nicht nur eine Liebesgeschichte, sondern ein vom Nazi-Mief der Nachkriegszeit geprägtes Österreich
Ort: Joma Restaurant, Wien
Zeit: 09.11.2024
“Das Schwamm-Drüber macht mich rasend.”
Standard: „Als hätte der Tag geahnt, was kommen würde, begann er zögerlich“, steht in Ihrem neuen Buch. Wie zögerlich beginnen Sie Ihre Tage?
Bilgeri: Sehr zögerlich. Ich bin ja ein Nachtmensch, manchmal geht’s mir wie dem Elvis, dass ich am Nachmittag erst aufwache, wenn ich bis sechs in der Früh gearbeitet habe, da hab ich meine Ruhe.
Standard: Und da sitzen sie nachts in der Rocker-Lederhose am Schreibtisch, um zu schreiben?
Bilgeri: In der Trainingshose.
Standard: Hören Sie Musik beim Schreiben?
Bilgeri: Meine Tochter hat da für mich so einen Jazzpianisten gefunden, der sehr inspirierend und geil das American Songbook rauf und runter spielt. Da komme ich selbst in den Flow, auch Musik ist ja Sprache.
Standard: Und an ihrer rhythmischen Sprache merkt man, dass Sie selbst viel lesen.
Bilgeri: Bei jedem Roman, den ich schreibe, steht irgendwo der F. Scott Fitzgerald herum, der ist für mich wie Jazz.
Standard: Dürfen wir Ihr neues Buch einen Schlüsselroman nennen?
Bilgeri: Alles, was darin vorkommt, ist haargenau so passiert.
Standard: Sie lassen Ihre Geschichte im Jahr 1958 in Wien beginnen, in dem „Sozialistensümmel“ herumlaufen. Sie kennen sich als Vorarlberger sehr gut aus hier.
Bilgeri: Ich habe ja 20 Jahre durchgehend hier gewohnt, und jetzt pendle ich alle zwei Wochen mindestens hierher.
Standard: Mit dem Zug?
Bilgeri: Hin und wieder komme ich auch über den Flughafen Altenrhein hierher, ich geb’s zu! Und sonst bin ich ein Autofahrer. Ich bin ja, als die Geburt meiner Tochter anstand, extra aus Italien mit meiner Frau heraufgerast nach Wien, damit sie eine Wienerin werden und im Krankenhaus Lainz zur Welt kommen konnte. Ich liebe Wien.
Standard: Ihre Heldin Gerda ist zu Beginn des Romans 19 Jahre alt…
Bilgeri: … und wächst mit ihrer bigotten, gleichwohl liebenden und gebildeten Mutter auf, die Sex als notwendiges Übel sieht und alles glaubt, was die im Vatikan ihr erzählen. Die über all das Grauen, das im Krieg passiert ist, nicht reden will und stattdessen alles zuschweigt, die freudlos und kleinbürgerlich ist. Diese Figur habe ich nach meiner eigenen Mutter gezeichnet, die selbst eine militant-katholische Religionslehrerin war und 101 Jahre alt wurde. Noch als 100jähriger habe ich ihr immer noch sagen müssen, dass der Schuschnigg und der Dollfuß Diktatoren waren: Mama, glaub es mir endlich! Aber es war schwierig, sie hat ja am Nachmittag immer Kath-TV geschaut und sich dort katholische Predigten angehört, zum Schluss immerhin hat sie dann doch auf die eine oder andere dieser verrückten Predigten verzichtet (lacht). Die Auseinandersetzungen mit ihr, diese Selbstbefreiung, die habe ich ins Buch einfließen lassen, da bin zum Teil ich diese Gerda. Und bei der Figur von Gerdas Schwester Agnes ließ ich mich von meiner Tochter Laura inspirieren, einem wunderbar fröhlichen Wesen, das alles auslacht im Leben, sich selbst inklusive, das aber hochreflektiert ist und früh begriffen hat, wie absurd das Leben und diese Welt ist.
Standard: In einer Wiener Buchhandlung und durch ein grünes Kofferradio eröffnen sich Ihrer Heldin neue Welten. Wie befreiten Sie sich selbst aus diesem erzkatholischen Nazisumpf, der Österreich nach dem Krieg war …
Bilgeri: … und teils immer noch ist! 1973 hat der Papa von meinem Freund Miki Köhlmaier ihn und mich nach Polen mitgenommen, er hat gesagt: Buben, ich muss euch das jetzt zeigen. Das war die Erfahrung meines Lebens, einen Tag dort zu verbringen, da gab es noch keinen Holocaust-Tourismus, keine Busparkplätze, wir waren praktisch alleine in Birkenau. Nur ein ehemaliger Häftling hat uns seine eintätowierte Nummer am Arm gezeigt und uns dann allein gelassen. Ich hatte damals vom Viktor Frankl sein Buch Trotzdem … mit dabei und bin wach geworden durch meine physische Anwesenheit am Katastrophengrund.
Standard: Schweigen war die längste Zeit Gold. Wir erfahren im Buch, wie Alain Resnais’ Film XXX in Cannes ausgeladen wurde.
Bilgeri: Ist doch ein Wahnsinn, oder? Dass man zehn Jahre gewartet hat, bis man endlich die Filme aus den Konzentrationslagern gezeigt hat, wo die Bulldozer die Leichenberge wegschieben. Aber durch das Schweigen konnten die ganzen Saunazis, die immer noch da sind, wieder wachsen aus dieser Tradition heraus, unter der auch die Gerda im Buch so leidet. Keiner hat geredet oder etwas erzählt: Lassen wir Vergangenes lieber ruhen, wollen wir den Hass lieber nicht mehr aufbrechen. Ich habe das selbst als so komisch empfunden, dass du bei gewissen Dingen nicht nachfragen durftest. Kein Wunder, dass der VdU in Vorarlberg bei der ersten Wahl nach dem Krieg 22 Prozent gekriegt hat.
Standard: Welche Rolle spielte Ihr Vater?
Bilgeri: Mein Papa legte mir anfangs auch das Stockkonservative in die Wiege, ist dann aber immerhin während des Kriegs zu den Kommunistischen Partisanen übergelaufen. Nach dem Krieg wäre er gerne Schuldirektor in Bregenz geworden, was vom obersten Vorarlberger Beamten, der als Vollnazi bis 1975 in Amt und Würden war, aber immer blockiert wurde. Dafür bekam die Nazischriftstellerin Nathlia Beer 60 Prozent der gesamten Literaturförderung des Landes, eine Frau, die immer sagte: Na, den Holocaust hat’s nie gegeben. Ich hoffe, man merkt dem Buch die Wut an, die ich darüber empfinde. In der Nachkriegszeit ist diese Saat gesät worden, die jetzt wieder aufgeht, die Autokratiefans sind wieder voll im Rennen, und die Idee, dass der Stärkere gewinnen soll. Furchtbar.
Standard: Gerda beginnt eine schwärmerische Liebesgeschichte mit Piero, der mit seinem Vater zusammen für das Rote Kreuz in der Schweiz alte Nazis nach Argentinien schleusten.
Bilgeri: Wir hatten einen bei uns in Hohenems, einen lieben, verrückten Kerl, der immer vom Lago Maggiore zu uns heraufgekommen ist, bei dem wusste man nie, was mit ihm wirklich los war, er war geheimnisvoll. Der hat mich fasziniert, aus dem habe ich diese Figur des Piero im Buch gebaut, solche Pieros hat es massenhaft gegeben, ein wilder Hund, der mit 19 schon Flieger war und dieser Frau, die so katholisch aufwächst, eine komplett andere Welt mit all den Sinnlichkeiten und Abenteuern eröffnet.
Standard: Und mit Sex, den Sie explizit und freudig beschreiben.
Bilgeri: Darum sind wir auf der Welt, wegen der Liebe und dem Sex - natürlich taugt mir das! Den ersten Fick von der Gerda zu beschreiben war mir wichtig, diese Erfahrung, jetzt etwas zu kennen, was die anderen nicht kannten. Sex wurde ja bestenfalls als notwendiges Übel gesehen und wurde einem von den Katholiken verleidet.
Standard: Mit denen haben Sie so Ihre Issues.
Bilgeri: Der Moralische Kompass Katholische Kirche ist der verlogenste und vergiftetste überhaupt, es gibt nichts Unfreieres als diese so genannte Glaubensgemeinschaft, von Liebe und Barmherzigkeitkeit ist dort keine Spur. Und immer gab es diese Affinität der Katholiken zum Autokratischen und zum Geld. Die Verwicklungen des Vatikan und des Roten Kreuz in diese Schmugglereien sind sehr genau dokumentiert.
Standard: Dieser Piero ist in den Tod von Gerdas Vater verwickelt, der in einem englischen Gefangenenlager in Ägypten eingesperrt ist.
Bilgeri: Das ist die Geschichte meines eigenen Vaters, von dem erst letztes Jahr die Tagebücher erschienen ist, 36 Jahre nach seinem Tod. Im Buch lass ich ihn sterben, meiner aber hat überlebt und im Detail beschrieben, wie unter diesen Cages - so nannte man diese Gefängnisse in der Wüste - Tunnel über 80 Meter Länge gegraben wurden, wie ein Fußballplatz gebaut wurde, auf dem dann Länderspiele abgehalten wurden. Seine Zitate habe ich eins zu eins übernommen, auch die Gegend um den Bittersee habe ich mir angeschaut, wo er gefangen war. Und als ich im Buch die Gerda da runter geschickte habe, hatte ich die atmosphärischen Bilder des Lawrence von Arabien im Kopf. Diese arabische Welt und ihre Gastfreundschaft hat mich immer fasziniert. Sollte ich das Buch einmal verfilmen können, dann freue ich mich auf nichts mehr als auf die Wüste, dort vergeht die Zeit langsamer.
Standard: Auf Hohenems freuen Sie sich aber auch immer wieder?
Bilgeri: Na sicher, dort bin ich ja mittlerweile Ehrenbürger!
Standard: Im Buch erzählen Sie von zwei junge Freunde, die sich ein Floß am Wasser bauten ….
Bilgeri: …der Mikki Köhlmaier und ich! Wir sind mit Seeräuberflaggen, Segeln und so einem Tretrad vorne dran hinaus auf den Rhein und dort herum gefahren. Das war unser Voralberger Woodstock mit dieser geilen Musik aus Amerika! Eine Elektrogitarre, mit der du diese alte, starre, verlogene Generation anmaulen konntest! Mit einem einzigen Chord hast du eine größere Macht gehabt als die mit ihren verlogenen Reden! Der Jimi Hendrix hat mich umgerissen damals, ich hab mir gedacht: Mein Gott, so eine Welt gibt es auch? Diese Musik war für uns lebensverändernd, wir konnten den Saunazis mit dem Arsch ins Gesicht gefahren. Der Landeshauptmann Kessler hat ja gemeint, wir sind Terroristen und gefährlich, aber genau diese Reibung haben wir gebraucht. Die ÖVP wollte auch keine Universität in Vorarlberg, eine Schule der Anarchie wäre das gewesen, alle sollten gefälligst das weiterdenken, was sie gedacht haben.
Standard: Sind Sie trotz Ihrer Wut einer geblieben, der anderen noch zuhören kann?
Bilgeri: Schon, nur wenn es verschwörungstheoretisch wird, dann ist´s bei mir aus. In Amerika gibt es 45 Millionen Kreationisten, die glauben, dass vor 6000 Jahren die Menschen gleichzeitig mit den Dinosauriern gelebt haben. Diese Wissenschaftsfeindlichkeit ist so gefährlich für die Demokratie, mir kommt vor, es ist die Zeit der Idioten angebrochen.
Standard: Das berührende Ende des Buches ereignet sich wie in Casablanca auf einem Flughafen, wo Gerda, die mittlerweile von ihm Mutter geworden ist, diesen Piero gehen lässt.
Bilgeri: Alles andere wäre ein Schmus gewesen. Und es hätte dieser Figur die Stärke und Größe genommen, die sie bis zum Ende hin aufgebaut hat.
Standard: Aus dem katholischen Duckmäuserchen ist eine wortgewaltige Journalistin geworden, so wie einst aus dem katholischen Reinhold ein wortgewaltiger Rockstar.
Bilgeri: So ist es!