Reise ins Herz der Stille

Optional Bildbeschreibung

Auf der Suche nach Ruhe habe ich den "Raum der Stille" im Untergeschoß des Wiener Hauptbahnhofs besucht und dabei mich und andere beobachtet.

Ort: Raum der Stille, Hauptbahnhof Wien

Zeit: 10. August 2025


Die erste Ferienwoche hatte ich halb am Land und halb in der Stadt verbracht, da wie dort herrschte furchtbare Hitze. Was meine sommerliche Sehnsucht nach Ruhe angeht, wurde sie nicht gestillt, im Gegenteil: Am Land ist die Flex längst zum Lieblingswerkzeug aller Heimwerker geworden, die bevorzugt an Sonn- und Feiertagen ihre Bodenplatten schneiden. Und in der Stadt werden vor meinem Fenster gerade Eigentumswohnungen hochgezogen. Mit der Kreissäge müssen dafür Hunderte Doka-Platten zugeschnitten und verlegt werden, bevor die Eisen für die Spannbetondecken draufkommen, die wiederum mit der Flex vorher zugeschnitten werden müssen. Außerdem werden die Gehsteige der Straße, an der dieses Haus einmal stehen wird, mit Pflastersteinen ausgelegt, von denen wiederum die Hälfte mit dem Trennschleifer ... Es ist ein wahres Kreuz mit dem Lärm

Nicht jede Sehnsucht wird gestillt

Mir ist also nach Verreisen zumute, und ich suche eine Destinantion, an der es möglichst ruhig sein würde. Ich will mit dem 18er zum Hauptbahnhof hinausfahren, aber der fährt an diesem ersten Regentag des Sommers nicht. Also latschte ich verärgert zum 13 A, der mich schließlich dorthin bringt. Als ich dort aussteige, liegt eine alte Frau aus Afrika vor dem Bahnhof inmitten ihres beträchtlichen Haufens an Kleidern, die wir weggeworfen haben. Wie sie sich das hier wohl vorgestellt hat, als sie von zuhause aufgebrochen ist? Reisen ist oft mit Sehnsucht verbunden, aber längst nicht jede Sehnsucht wird gestillt.

Die Züge fahren um diese Zeit des Tages nach Breclav, Budapest, Graz oder Zürich, und die Mehrzahl der Reisenden drängt es wohl in Richtung Zerstreuung, Unterhaltung, Bergsteigen mit Selfie am Gipfelkreuz oder sommerliches Feiern. Ich aber möchte an einen mir bisher unbekannten Ort reisen – ins Herz der Stille. Dieser Ort wartet im Untergeschoss auf mich, in einem eigens dafür eingerichteten Raum, der folglich genau so heißt: Raum der Stille. Dass ich diesen Ort bisher nicht kannte, liegt wohl auch daran, dass man ihn gut versteckt hat: Im Untergeschoss ganz hinten links, wo wir Hektischen und Betriebsamen nicht durch diese lästige Ruhe gestört werden sollen.

Stiller Portier

In diesem Raum sitzt links vom Eingang eine Art stiller Portier, der mich anschaut und mir leise zunickt, als ich eintrete. Menschen, die im weitesten Sinne mit Religion zu tun haben und mich anschauen, bereiten mir stets unangenehme Gefühle. Sie erinnern mich an Gott, der, so lernten wir es als Kinder, mich immer und überall beobachtet und daher alles sehen kann, was ich gerade tue. Sieht er nun also auch, dass ich beim Eintreten kein Kreuz schlage, weil ich längst nicht mehr an ihn glaube?

Dieser Raum ist gelb ausgemalt, was, wie ich finde, keine beruhigende Farbe ist. Links und rechts in diesem Oval stehen 25 Schulsessel an den Wänden, ganz vorne steht ein Kreuz auf einem Altar, und unter dem Altar steht eine Vase mit Blumen. Hinter dem Altar ist neben dem ewigen Licht (wer‘s glaubt!) ein Tabernakel in die Wand eingelassen, in dem sich die Monstranz mit dem leibhaftig Gekreuzigten darin befindet – für alle, die an ihn glauben. Ein Mann im elektrischen Rollstuhl, der nach vorne gefahren ist und diese nun berührt, tut dies bestimmt, denn er betet mit berührender Inbrunst. Dabei erinnert er mich daran, dass Gott von denen erdacht wurde, die ihn brauchten (und von denen in die Welt getragen, die mit ihm Geld verdienen wollen). Er erinnert mich aber auch daran, dass die schönste Form des Reisens das Gehen ist, und welches Geschenk es ist, überhaupt gehen zu können. Ich nicke ihm zu, als er hinausfährt, und bete ausnahmsweise zu Gott, dass er ihn begleiten möge.

Eine Stunde als Ziel

In der Mitte des Raumes liegt auf einem Stehpult ein Brevier. Es ist auf Seite 696 aufgeschlagen, und dort lese ich: "Da kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte: Friede sei mit euch." Bis heute ist er bei uns Menschen mit diesem frommen Wunsch nicht wirklich durchgedrungen. Ich setze mich hinten links, wo ich auch im Kino immer sitze, auf einen Stuhl und bin nun alleine. Eine Stunde, nehme ich mir vor, möchte ich hier bleiben. Ruhe und Stille sind aber keine einfache Übung, und schnell merke ich, dass auch diese Destination – wie viele touristische Ziele – nicht wirklich hält, was sie verspricht. Die Türen im Raum der Stille sind nämlich nicht geschlossen, also höre ich rollende Koffer, schreiende Kinder, eilende Mütter, das Klingeln des Aufzugs, und immer wieder die Stimme von Chris Lohner, die vom Schienenersatzverkehr zwischen Grammatneusiedl und Wien erzählt und davon, dass in den bereitgestellten Schienenersatzverkehrsbussen eventuell nur beschränktes Platzangebot herrschen würde.

Kommet alle zu mir!, möchte ich durch die offenen Türen hinaus rufen, denn hier sind noch 24 Plätze frei. Fünfzehn Minuten bin ich schon alleine, was mich ein wenig unruhig macht: Wo führen die beiden Türen da vorne hin?, frage ich mich, und: Was, wenn Gott mir dabei zusieht, wie ich im Geiste die Stühle umgruppiere? (Und was, wenn der Portier da draußen mich auch beobachtet und sich fragt: Was macht denn der? Fünfzehn Minuten war noch nie jemand hier!)

Endlich gesellt sich eine Frau in weiter, roter Hose und weißem, gehäkelten Top zu mir. Sie stellt ihre graue Filztasche auf den Sessel beim Eingang und geht zu den Kerzen im Vorzimmer gegenüber der Portiersloge. Sie zündet zwei von ihnen an und stellt sie an die Wand, an der ein Text aus Exodus 3,14 geschrieben steht: "Und ich bin herniedergefahren, dass ich sie errette aus der Ägypter Hand und sie aus diesem Lande hinaufführe in ein gutes und weites Land, in ein Land, darin Milch und Honig fließt, in das Gebiet der Kanaaniter, Hetiter, Amoriter, Perisiter, Hiwiter und Jebusiter." Damals kam man also auch schon viel herum, und alles zu Fuß! Im Abstand von nur einem Sessel setzt sie sich neben mich, bekreuzigt sich, schließt die Augen und betet. Es gibt sie also noch: Die, die beten. Und plötzlich ist es, als hätte sie die versprochene Stille mitgebracht, denn ein paar Minuten lang höre ich gar nichts. Bis sie sich mit einem "Auf Wiederschaun!" von mir verabschiedet.

Beständig brennende Kerzen

Ihren Stuhl besetzt gleich darauf eine auffällig große Frau in gelber Regenjacke und weißen Hosen. Sie hält ihren Regenschirm zwischen ihren Knien und blickt nicht nach vor zum Tabernakel, sondern nach rechts zur Wand, wo sie beständig die zwei brennenden Kerzen anschaut. Würde Gott in unserer Mitte sie fragen, ob er etwas für sie tun könne, würde sie bestimmt sagen: "Nein danke, ich schau nur." Sie geht, wie sie gekommen ist, ohne leise zu nicken.

Die Stille zieht sich. Noch eine halbe Stunde. Was soll ich denn tun? Ich denke an die Tour de France, die ich jetzt zuhause schauen könnte, und an das gelbe Trikot, als eine ganz in Blau gekleidete Frau um die 60 ohne zu nicken oder zu grüßen hereinkommt. Wann entscheiden wir uns für den funktionalen Kleidungsstil, dem wir für den Rest des Lebens treu bleiben, für eine Farbe, der wir alles unterordnen, oder für die praktische Frisur, unter der wir uns bis zum Tod verstecken? Immerhin ihr Rucksack ist grün.

Nach ihr kommt recht forsch einer mit zwei Nordic-Walking-Stecken herein und beachtet mich im Vorbeigehen gar nicht, denn er weiß genau, wo er hinwill: Nach ganz vorne. Und dort weiß er ganz genau, was er zu tun hat: Sich hinzuknien und Kreuze zu schlagen. Um die Stille schert er sich nicht, denn er betet halblaut in einer Sprache, die ich in Rumänien verorte. Ich möchte ihm nicht Unrecht tun, aber alles an ihm schreit: Siehst du mich, lieber Gott? Siehst du, dass ich bete? Es gibt sie also auch hier, die Poseure.

Beruhigender als Social Media

Unsichtbar sind die, die sich in das Gästebuch bei der Kerzenwand eintragen haben, aber ihr Sätze klingen nach: "Bitte hilf mir in meinem Leben, ich brauche deine Hilfe, erhöre meine Gebete", schrieb jemand, oder: "Segne unsere Omi, die letztes Jahr gestorben ist." Die Familie Jaganata war beim Straßenfestival am Broda-Platz (von 10.10 bis 18.18 Uhr, wie sie wahrheitsgemäß oder spaßeshalber schrieben), jemand anderes wagte einen Blick in die Zukunft: "Einmal sehen wir uns wieder." Dieses Buch durchzublättern ist beruhigender als durch Social Media zu scrollen, wo schon am Morgen wieder ein Sommerfrischler einen Alpengipfel erklommen hat, um sich dort oben auch gleich noch ans Gipfelkreuz zu hängen, von dem herab alles an ihm schreit: Seht ihr mich, liebe Follower? Seht ihr, wie ich am Kreuz hänge? Weiß er denn nicht, dass der Gekreuzigte selbst ihn dabei beoachtet?

Ich verabschiede mich mit einem stillen Nicken beim Portier und gehe entspannt hinaus, während er sich wohl fragt: Was war denn das für einer? Unser neuer Rekordhalter? (Manfred Rebhandl, 10.8.2025)

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Beruf: Hornkammmacher

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