Ulysses in der Hofburg

Foto: Manfred Rebhandl

Angeboten - Abgelehnt

Texte, die keine Zeitung bringt

Meinhard Rauchensteiner ist der wohl größte Ulysses-Fan Österreichs. Aber auch er musste sich den James Joyce-Klassiker erst erarbeiten.

Eine Liebesgeschichte


Wie man doch noch zum Klassiker-Fan wird

In der Rückschau beklagt Meinhard Rauchensteiner, 55jähriger Leiter der Abteilung für Wissenschaft, Kunst und Kultur in der Österreichischen Präsidentschaftskanzlei, seine „allzu große Ehrfurcht“ vor dem Jahrhundertwerk Ulysses des Iren James Joyce, das 1922 erstmals von Sylvia Beach, Besitzerin der Buchhandlung Shakespeare and Company in Paris, verlegt wurde und 1927 auf Deutsch erschien. Wie viele andere Novizen begann nämlich auch er das Buch mehrmals zu lesen und stoppte immer wieder nach drei Seiten, „weil es einfach so fad war.“ Außerdem hatte er genug andere „Giftpackungen“ zu Hause herumliegen, um die er sich kümmern musste - Arno Schmidt oder Karl May. Natürlich war ihm aufgefallen, dass auch diese beiden Autoren mit Hans Wollschläger zu tun hatten, dem von ihm verehrten Herausgeber der Anderen Bibliothek und Übersetzer des Ulysses für den Suhrkamp-Verlag. Als dieser 2007 starb, war er selbst bereits 37 Jahre alt und dachte: Nun muss ich das Buch doch endlich lesen!

Damals kaufte er sich die Suhrkamp-Werkausgabe, in die er noch heute seine unzähligen Notizen macht. „Bücher sind eine Einladung, etwas hinauszuschreiben!“, sagt er. „Außer, es mindert den Wert des Buches.“ Er nahm sie mit in die Straßenbahn der Linie 60, die er täglich zwischen seinem damaligen Wohnort Wien-Rodaun und seinem Arbeitsplatz in der Wiener Hofburg benutzte, 27 Minuten für jede Strecke ergab nicht ganz eine Stunde Lesezeit pro Tag. Dabei dachte er stets an den großen Wollschläger, der ihm beim Lesen über die Schulter schaute:  „Das hat mich ausreichend unter Druck gesetzt!“

Schnell begriff er während der Fahrten, dass der ganze Roman ein K.u.K-setting hat: „Leopold Bloom, der Protagonist, ist Sohn eines ungarischen Juden aus Szombathely, der über Wien nach Irland kommt. Die ersten Skizzen zum Ulysses machte Joyce in Triest, als dieses noch Teil der Monarchie war. Dort hatte er Kontakt vor allem zu ungarischen und italienischen Nationalisten, auch wegen seines Bruders Stanislaus. Und die empfinden die Österreicher als Kolonialmacht, genauso wie die Iren die Briten. Die ganzen Revolutionsbewegungen in Ungarn und Italien sind also mehr oder weniger so etwas wie ein Diapositiv für die Unabhängigkeitsbestrebungen Irlands.“ Und das faszinierte ihn.

Nach sechs Wochen strenger Leseroutine in der Straßenbahn „habe ich das Buch zugeschlagen und war so im Flow, dass ich auch gleich den Zauberberg, der ja zwei Jahre später als der Ulysses erschienen ist, lesen wollte.“ Allerdings: „Der Thomas Mann zelebriert eine Post-Goethe-Sprache und Bildungsbürgerlichkeit, dass einem schlecht wird. Ich dachte: Was will der Alte, der ist ja nicht ganz bei sich!“ Mittlerweile hat er auch mit dem Zauberberg seinen Frieden geschlossen, aber der Ulysses war zur „Krankheit“ geworden, die von ihm Besitz ergriffen hatte, je mehr „Bazillen“ er davon aufnahm.

Diese Krankheit erlebte einen „Schub“, als er am Bloomsday 2020, dem von Fans alljährlich begangene „Feiertag“ am 16. Juni, eine vielsprachige Lesung organisierte, „weil der Ulysses ja den Anspruch hatte, ein neuer Everyman zu sein.“ Über die Musikuni Wien trieb er Studierende aus insgesamt 15 Ländern auf, mit denen zusammen er im Radiokulturhaus eine Performance veranstaltete. Im Jahr darauf wurde er abermals gefragt, ob er nicht „etwas machen“ wolle,  und er sagte: „Na gut, ich koch’ euch halt Nieren! Weil ja am Beginn des Kapitels vier der Bloom als erstes eine Schweinsniere kauft und ihm diese am Herd verbrennt.“ Er hat sich also ein paar Tage freigenommen, zehn Kilo Schweinsnieren gekauft, sie gesäubert, in Milch eingeweicht, dazu fünf Kilo Zwiebel geschnitten, eine Riesenpfanne und einen Elektrokocher organisiert und auf der Bühne stundenlang Nieren gekocht, die er auf Papptellern dem p.t. Publikum anbot. „Währenddessen hat der Nino aus Wien gesungen“, erzählt er. Jener Nino, der seinerseits bekennender Finnegans Wake-Fan ist. Seine „Krankheit“ trieb ihn – wohl im Fieberwahn! – sogar dazu, sich für die Wohnung, die er 2019 bezog, einen Teppich mit den Worten der letzten Seite des Ulysses weben zu lassen: „Du schickst ein File nach England, gibst die Maße des Teppichs an, bezahlst im Voraus, und drei Wochen später kommt das Teil.“

Natürlich absolvierte er in der Folge auch die üblichen Wallfahrten nach Dublin oder zum Grab des Autors auf dem Friedhof Fluntern in Zürich. Und er schwärmt von der Reise, die ihn Joyce’ Appartement in Rom finden ließ. Oft stellte er sich bei solchen Gelegenheiten das Familienleben des Autors vor: „Wie er vollkommen verkatert am Küchentisch mit den schreienden Kindern um sich herum versucht, irgendetwas aufzuschreiben auf irgendeinem Käsezettel. Und hinter ihm in der Küche die Gattin Nora, die gar nicht höflich und zurückhaltend war.“

Aus einer Laune heraus begann er in Ländern, die er besuchte, Übersetzungen des Buches zu kaufen. Diese Käufe dehnte er bald auf Länder aus, die er zusammen mit dem Österreichischen Bundespräsidenten im Rahmen von Staatsbesuchen bereiste:  „So kam ich an eine chinesische, lettische oder mongolische Ausgabe“, erzählt er. Davor kontaktiert er jeweils lokale Buchhandlungen, damit diese ihm gegebenenfalls ein Exemplar bestellen können. „Wenn ich zwei Stunden frei habe, rase ich dorthin und kaufe es.“ Zufällig erfuhr er auch von einer malaysischen Ausgabe, die in Indien von einer privaten Stiftung „mit einem besonders schiachen, martialischen Cover“ hergestellt wurde. Er beauftragte einen indischen Freund, der extra zu dieser Stiftung hinfuhr, die etwas abseits in einer Art Kloster lag. „Ich brauche dieses Buch!“, sagte dieser dort, und er bekam zur Antwort: „Das geht nicht, wir haben nur ein Exemplar.“ Darauf sein Freund: „Perfekt! Ich brauche ja eh nur dieses eine!“ Und das besitzt er nun.

Er war zum Sammler geworden, der sich eine vierte Auflage ohne Originaleinband, die 1924 herausgekommen war, um noch erschwingliche 350 Euro kaufte, „heute bezahlt man drei- bis viertausend dafür.“ Und Erstausgaben, sagt er, würden schon mal 70.000 Euro kosten, mit Unterschrift und Widmung auch 120.000. In den USA, weiß er, war das Buch lange Zeit verboten und wurde sogar verbrannt. The Most Dangerous Book In The World heißt ein Bildband, der solche Verbrennungen in einem Krematorium in New York dokumentiert. Schließlich fand sich doch einen Bezirksrichter, der im Ulysses ein wichtiges Werk der Weltliteratur erkannte und es für gar nicht pornografisch hielt – was lange ein Vorwurf war, und  so konnte es ab 1934 endlich auch in Amerika erscheinen. Ein Exemplar, in dem dieser wegweisende Gerichtsbeschluss abgedruckt ist, besitzt er auch.

In seinen zwei vollgeräumten Regalen in der Präsidentschaftskanzlei stehen zahllose weitere Schätze: „Im Iran ist das Buch verboten“, erzählt er. „Was hat der Übersetzer also gemacht? Er hat den Ulysses einfach nacherzählt und dabei alles Pornografische und Gotteslästerliche eliminiert, aber auch gleich eine Biografie von Joyce angehängt und immerhin ein Kapitel des Buches als „Beispiel“ veröffentlicht, was am Ende niemanden gekümmert hat. Weiters: „Eine arabische Ausgabe wurde zwischen 2013 und 2015 in Damaskus gedruckt, zu der Zeit, als dort der Bürgerkrieg tobte und Menschen tausendfach zu Tode kamen, entführt und gefoltert wurden oder einfach verschwanden. Und inmitten all dessen hat jemand die Druckerpresse angeschmissen und den Ulysses gedruckt….“

Von einer privaten Reise brachte er die kolumbianische Ausgabe mit, „die besonders schön ist, und interessant! Denn es unterstreicht einen gewissen nationalistischen Touch, wenn ein Land wie Kolumbien sich nicht mit der spanischen Übersetzung begnügt“, sondern eine Art „magischen Realismus von Kolumbianern für Kolumbianer“ auch in „ihren“ Ulysses einfließen lassen möchte. Selbstverständlich gibt es auch eine Ausgabe für Katalonien, eine für die Basken und sicher noch andere für solche, die sich selbst ebenfalls als „Minderheit“ empfinden. Insgesamt besitzt er mittlerweile Ausgaben in 43 Sprachen, wobei es alleine 17 verschiedene Übertragungen ins Italienische gebe, „die sind sich da nicht ganz einig.“ An eine ist er aber bis heute nicht gekommen: „Die Isländische ist sehr schwer zu kriegen!

Begeistern kann er sich auch für die Art „Industrie“, die sich um den Roman herum entwickelt hat: „Dass es eine Biografie des anerkannten Joyce-Biografen Richard Ellman gibt, dessen Lebensinhalt die ständige Überarbeitung seiner Joyce-Biografie war, finde ich super!“ Mit dessen zweibändigem Werk begann auch für ihn der Einstieg in die Welt der Sekundärliteratur: „Die kauft man sich halt, um ein bisserl was über Joyce zu erfahren.“ Will man allerdings stärker ins Detail gehen, kauft man sich wie er dicke Bücher, die voller Kommentare zu den einzelnen Abschnitten des Buches sind. „Fußnoten und Anmerkungen sind das allerlässigste!“, schwärmt er, denn die würden erst Aufschluss darüber geben, wie beispielsweise die Briefe - die er selbstverständlich auch alle kennt - vor dem jeweiligen kulturhistorischen Hintergrund  zu lesen wären. Seine eigenen alltäglichen Routinen beeinflusst Joyce übrigens nicht. „Er war Weißweintrinker, ich trinke Gin. Angeblich hat ihm sein Augenarzt sogar mal gesagt, dass er auf Rotwein umsteigen soll, dann würde sein Augenleiden besser verlaufen. Darauf hat Jocye zu ihm gesagt, er würde lieber eine Operation mehr in Kauf nehmen, als das zu tun.“

„James Joyce“ auf dem Cover seiner lettischen Übersetzung liest sich übrigens so: Džeimss Džojs. Auf dem der bosnischen steht Džejms Džojs, auf der griechischen Τζαίημς Τζόυς, und auf der mazedonischen Џемс Џојс. Mazedonien ist wichtig, denn von dort stammt Marija Girevska, die für ihre Übersetzung des Ulysses ins Mazedonische 2013 den renommierten Preis „Goldene Feder“ erhielt. Wegen dieser Übersetzung suchte er den Kontakt zu ihr, während der Pandemie begannen sie, sich gegenseitig Artikel und Wissenswertes zum Thema zu mailen und trafen sich schließlich sogar in Dublin, wo sie „ernsthaft über Joyce zu reden“ begannen und im Prinzip seither nicht mehr damit aufgehört haben.

Ergänzt aber werden diese Gespräche seither um persönliche Sätze, denn über ihre Liebe zu diesem Buch sind sie ein Paar geworden. Und das ist die wahrscheinlich schönste Nebenwirkung, die seine „Krankheit“, die er sich vor bald zwanzig Jahren in der Straßenbahnlinie 60 zwischen Rodaun und der Wiener Innenstadt eingefangen hat, mit sich gebracht hat: Die Liebe.

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Günther Brodár - Der Rahmenmacher