David Schalko
Foto: Nicole Albiez
„Ich bin ja eher der, der am Abend was liest als dass er Filme schaut“. Sagt einer, der hauptberuflich Filmregisseur und -produzent ist. Im Zweitberuf ist er längst Schriftsteller, und als solcher schreibt er gerade an einem Agentenroman. Dafür musste er in den letzten Monaten am Abend ein bisserl was lesen, aber nicht etwa, um abzuschreiben, sondern um zu recherchieren. Interessantes Thema: Hallunzinationen.
„Die sind interessant, weil sie ja nichts mit Träumen zu tun haben. Sie kommen aus dem Nichts und haben auch mit der hallunzinierenden Person selbst nichts zu tun.“ Seine eigene Großmutter etwa „sah“ mit über 90 Jahren plötzlich irische Musiker im Garten, ohne je einen Bezug zu Irland gehabt zu haben. „Das ist der Klassiker. Oft werden aber auch Dinge hallunziniert, die fehlen.“ Gefängnisinsassen, Pilot oder Fernfahrer wären besonders anfällig dafür. Anderes Phänomen: „Massenhallunzinationen. Im Frankreich der 1950er Jahre flippte ein Dorf kollektiv aus, weil die Bewohner unter Mutterkornvergiftung litten.“ Im Mittelalter war Brot oft mit dem Mutterkornpilz verunreinigt und schob durch seinen Verzehr die eine oder andere Wahnvorstellung an. So können Religionen entstehen, aber auch gute Bücher. Wie die des Magischen Realismus, den der kubanisch-französische Schriftsteller Alejo Carpentier im Vorwort zu seinem Roman Das Reich von dieser Welt (1949) noch „Das wunderbar Wirkliche“ nannte.
Juan Rulfos einziger Roman Pedro Páramo aus dem Jahr 1955 paßte gut ins Feld seiner Recherchen: „Juan sucht darin seinen Vater in einem Dorf namens Comala, einer Geisterstadt. Er beginnt die Leute zu hallunzinieren, die dort gelebt haben.“ Bis er selbst stirbt und sich im Grab mit der Bettlerin Dorotea weiter austauscht und den Stimmen anderer Toter lauscht. „Die Sprache ist klar und lakonisch, aber man hallunziniert ja auch bei größter Klarheit. Rulfo braucht nur zwei Sätze, um Riesenwelten aufzumachen und eine traumhafte Atmosphäre entstehen zu lassen, die sich festbeißt im Unbewußten, es bleibt so viel hängen.“ Wer braucht da am Abend noch Filme?