Mein leeres Elternhaus
Foto: Manfred Rebhandl
Vor zwölf Jahren starb unser Vater, seit zwei Jahren ist unsere Mutter im Heim. Seither ist das Elternhaus leer.
02.11.2015 im www.derstandard.at
Früher war es so: Wenn wir Kinder das Elternhaus besuchten, dann war da im Haus immer Suppe am Tisch plus Haupt- und Nachspeise, und der Rasen um das Haus herum gemäht. Die Fenster waren geputzt, sodass darauf keine Streifen im Licht der einfallenden Sonne zu sehen waren, die Böden waren nicht stumpf, sondern glänzten, die Badarmaturen waren von Kalk befreit und die Sachen – alle Sachen! – an ihrem Platz. Am Haus war die Fassade sauber, die Steinplatten um das Haus herum mit dem Besen gekehrt, und wenn wir dort im Haus übernachteten, waren die Betten in unseren Zimmern mit frischer Wäsche bezogen und dufteten genau so, wie sie es mussten. Kleines Extra, das wir als selbstverständlich nahmen: Wenn es draußen stürmte und schneite oder der kalte Regen gegen die Fenster prasselte, dann war es im Haus wohlig und warm. Mit anderen Worten: Es war perfekt.
Dafür hatten unsere Eltern gesorgt, die dieses Haus gemeinsam und mit eigenen Händen ab 1963 gebaut hatten, aus Ziegeln ein Stockwerk auf das andere, über zwei Jahre. Ohne Isolierung, mit schlechten Fenstern und einem Heizsystem, das zunächst Holz verbrannte, dann Kohlen, Briketts und Koks, und schließlich Öl. Mit einer Garage, in der unser erster VW Käfer stand und später viele VW Passats, und in der später "mein" Zimmer sein würde. Sie hatten es zunächst auf einem 2.000 Quadratmeter großen Grundstück errichtet am Rande eines Moores, worüber alle lachten – es war nass, sumpfig und finster. Sie hatten das Haus der Natur abgetrotzt, die sich in dieser Gegend, wo es auch im Sommer immer wieder länger regnet, als ausgesprochen widerstandsfähig erweist. Sie will sich so ein Haus auch wieder zurückerobern, schickt dafür Pflanzen und Tiere, Unkraut und Spinnen, die an ihm arbeiten. Aber unser Vater wusste, wie er diese Natur von unserem Haus fernhalten konnte, sodass unsere Mutter im Inneren den Abwehrkampf erst gar nicht fortführen musste. Sie waren ein perfektes Team.
Nun ist mein Vater seit über zehn Jahren tot, und meine Mutter ist seit bald zwei Jahren im Heim. Dass der Vater nie wieder kommen wird, das haben wir längst verstanden. Dass aber auch unsere Mutter das nun so stille Haus nie wieder betreten wird, das zu akzeptieren fällt schwer. Stets habe ich Hoffnung, aber diese wird sich nicht natürlich nie mehr erfüllen. Also bleiben die Erinnerungen: An den Platz am Küchentisch, an dem sie immer saß, und an jenen, auf dem er immer in Richtung Fenster blickte, durch das man diese Natur sieht. Als der Opa gestorben war, bestand meine Tochter, sein Enkelkind, darauf, dass niemand mehr auf seinem Platz sitzen durfte, weil es für immer seiner war. Ein Jahrzehnt lang hielten wir uns alle daran, aber mit dem Abschied der Mutter aus dem Haus ist jegliche Ordnung am Küchentisch abhanden gekommen. Es sitzt ja kaum noch mal jemand darum herum.
Strahlen und Verzweiflung
Nun kommst du in dieses Haus, das dein Zuhause war, und du weißt nicht, ob es das immer noch ist, denn: Was ist schon ein Zuhause ohne Eltern, die du dort an jedem Ort, in jeder Ecke, in jeder Situation und in jedem Zustand des Angekleidet- oder Ausgezogen- und Umgezogensein gesehen hast? Deren Gerüche du kanntest, deren Gesten und Blicke, deren Gefühlszustände genauso wie die ihres Körpers: Der Beckenbruch, die neue Hüfte, der Rotlauf (bei ihr), das kaputte Knie, der Krebs (bei ihm). Die du bei jeder Tätigkeit gesehen hast: beim Kochen, beim Abwasch (sie), beim Abtrocknen des Geschirrs (er), beim Fernsehen am Abend (gemeinsam), am Schreibtisch (ihn), beim Rasenmähen (ihn), beim Gäste-Versorgen (sie), beim Streiten (beide), beim Versöhnen (beide). Die du beim Weinen erleben musstest, als ihre kleine Tochter starb (beide), und wieder beim Weinen, als er starb (sie). Mit denen du Weihnachten und Ostern, die Jahreszeiten und alles dazwischen erlebt hast, ihre Siege und Niederlagen, ihr Strahlen und ihre Verzweiflung.
Jetzt ist das Haus leer, wenn du es betrittst, und sie werden sich nie wieder auf dich freuen, wenn du dein Kommen angekündigt hast. Sie werden dich nie wieder verabschieden, wenn du gehst. Die Mutter wird dir nie wieder auf der Straße entgegenkommen, weil sie sich so auf das Enkerl freut, und der Vater wird dich nie wieder mit dem Auto aus Wels abholen, weil es so am einfachsten war. Sie wird nie wieder den Teig für das Brot kneten, das alle so liebten, und er wird nie wieder die Ribisel für den Kuchen "brocken", den alle nicht weniger liebten. Sie wird abends nie wieder ihr geliebtes heißes Bad nehmen, während er nie wieder den Kugelschreiber für das Kreuzworträtsel halten wird, das er oft allein noch löste, wenn sie schon schlafen gegangen war. Sie waren allein angekommen in diesem Haus, nachdem wir Kinder ausgezogen waren, und du hat dich manchmal gefragt, ob sie vielleicht auch einsam waren (erleichterte Antwort: Nein) und was sie den ganzen Tag lang gemacht haben?
Jetzt, wo du das Haus betrittst und seine Veränderungen bemerkst, findest du die Antworten darauf. Denn du verstehst, dass du dir das Essen, wenn du eines haben möchtest, selbst zubereiten musst, und dass du das Geschirr besser gleich wieder wäscht und in die Regale stellst, denn sonst kommen die Ameisen. Du weißt nun, dass du das Klo, wenn du es weiterhin benützen möchtest, besser sauber hältst, und dass du die Bettwäsche auch mal wechseln musst, wenn du darin schlafen willst. Du wirst nur einmal darauf verzichten, die Brösel vom Boden zu kehren, weil du die Folgen beim nächsten Mal selbst tragen musst (wieder: Ameisen!). Und im Winter kapierst du, dass du das Öl, das die alte Heizung im Winter verbrennen wird und das dir deine geliebte Stunde in der Badewanne mit den Samstagszeitungen ermöglichte, selbst zu bezahlen hast.
Überall Spinnen
Du verstehst nun endlich, was deine Mutter immer meinte mit: "Zieh dir die Schuhe aus, Rotzbub!" Denn die Schuhe, die du anlässt, verursachen den Dreck, den sie immer weggemacht hat und den du nun selbst wegmachen musst. Du verstehst, was der Vater immer meinte, wenn er mit Nachdruck sagte, du sollst die Fenster schließen, wenn der Wind aufkommt. Denn wenn du es jetzt einmal nicht tust, bevor du wieder wegfährst, zieht der Gewitterwind durch und rüttelt an allen Türen und Fenstern, und wenn du sie dann, wenn du wiederkommst, zumachst, dann spürst du, dass sie locker geworden sind. Hast du das endlich kapiert, wirst du ebenso schnell lernen, dass die Fenster auch undicht werden, wenn du das Haus nicht regelmäßig heizt, weil die Temperaturunterschiede an der Substanz ziehen und schieben. Und andererseits verstehst du, warum du die Fenster bei jeder Gelegenheit aufmachen sollst, um das Haus zu lüften, denn wenn du es nicht tust, kommt der Schimmel.
Du verstehst plötzlich auch, warum die Eltern im Sommer jeden Tag um das Haus herum die Platten gekehrt haben. Nicht, weil sie es unbedingt so sauber haben wollten (das auch!), sondern weil sonst die Samen in die Ritzen fallen, das Unkraut darin zu wachsen beginnt und die Platten reißen. Du verstehst, warum sie die Außenfenster stets mit einem Besen sauber gehalten haben – weil sie dabei die Spinnweben entfernten. Im Haus drinnen schaute die Mutter, dass die berüchtigte Winkelspinne sich nicht ausbreitete, was sie nun ungehindert tut, weil die Mutter nicht mehr danach schaut und du den Verstecken der Spinnen gar nicht hinterherkommen kannst, wenn du nur alle paar Wochen im Haus bist. Diese Spinnen, verstehst du, sind überall!
Du verstehst, warum du die Mutter immer, wenn du zu Besuch gekommen bist, in irgendeinem Zimmer beim Putzen gesehen hast: Weil das Haus verfällt, wenn es nicht passiert. Die Armaturen verkalken, die Hähne beginnen zu tropfen, der Boden wird stumpf, die Sesselleisten lösen sich. Du verstehst plötzlich, wie sich der Lurch bildet: Mit der Zeit. Die Sonneneinstrahlung von unterschiedlichen Seiten sorgt für kleinste Luftbewegungen innerhalb des Hauses, und so sammelt er sich schön langsam in seinen bevorzugten Ecken. Schaust du alle paar Wochen unter dein Bett, dann siehst du ihn im Licht der Nachttischlampe – solltest du das Glück haben zu wissen, wo im Haus immer die Glühbirnen waren, wenn mal der Draht bei einer gerissen ist! Du hörst es nicht in dieser Nacht, aber du weißt, dass im Heizkeller aus irgendeiner Leitung langsam Öl auf den Boden tropft, den du seit Jahren nicht mehr aufgewischt hast, und du fragst dich, ob es sich lohnt, deswegen den Installateur zu verständigen? Bei der Gelegenheit fragst du dich auch, ob du überhaupt die Versicherung für das Haus bezahlt hast, die nun auch du bezahlen musst?
Du sitzt im Sommer auf dem Balkon und denkst vielleicht kurz, es ist alles wie früher. Nur dass sich das Balkongeländer langsam auflöst und das Holz sich verzieht, weil es nicht mehr gepflegt und lackiert wird, so wie der Vater es früher regelmäßig tat. Du blickst hinunter auf den Gartenzaun, der nur noch in Teilen vorhanden ist, weil auch dieses Holz der Natur nichts mehr entgegenzusetzen hat und nun in Form trauriger Gartenzaunlatten verfault. Du blickst auf die Hecke, die du längst aufgegeben hast, weil du nicht weißt, wie der Vater es geschafft, immer ein so langes Stromkabel vom Haus zur Hecke zu legen, um dort die elektrische Heckenschere benützen zu können.
Unberührtes Revier
Das Fenster in dem Zimmer, das nun dein "Büro" ist, war voll mit Vogelscheiße, als du das erste Mal nach dem Auszug der Mutter wieder gekommen bist, denn ein Brutpaar hatte sich davor unter den Dachziegeln eingenistet und dessen Freunde und Verwandte flogen immer wieder gegen die Scheibe, wenn sie zu Besuch kamen – oder was weißt denn du, woher der ganze Dreck kam! Der Wein, der "hinten" im Garten an einer Wand wuchs, wächst nun um die Wand herum überall. Die Steine, die der Vater mal ausgelegt hatte und die als Treppe in den Garten hinunter führten, haben sich seltsam verschoben. Im "Troadkostn" – ein alter Getreidekasten, den mein Vater einst bei einem Bauernhof abgebaut und bei uns im Garten wieder aufgestellt hat, in dem er mit seiner Kartenrunde spielte, für die meine Mutter die Gulaschsuppe kochte – ist der Holzwurm drin. Und davor liegen die Kadaver der Vögel und Mäuse, die von den streunenden Katzen des Nachbarn gekillt wurden, die nun um unser Haus herum ein herrliches, wildes, freies und vom Menschen weitgehend unberührtes Revier entdeckt haben.
Nicht einmal die Brennnesseln, die jetzt überall wachsen – im Garten auf den Beeten, die meine Mutter bepflanzte, und zwischen den Ribiselstauden, die mein Vater abpflückte – können sie daran hindern, dort herumzustreunen und sich darüber zu freuen, dass sich die Natur schön langsam unser Haus zurückholt. Während du dich immer wieder fragst, wie die Eltern es geschafft haben, genau das 60 Jahre lang zu verhindern. Mit harter Arbeit, weißt du, und mit der Liebe von Eltern, die es für ihre Familie schön haben wollten.